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Der Liberalismus und die Gottesfrage
Überlegungen angesichts des geistigen Umbruchs in Europa (Mai 2005)

Josef Spindelböck

Hinweis/Quelle: Vortrag bei der vom „Internationalen Forschungsinstitut zur Förderung der Kirchengeschichte in Mitteleuropa“ (IFKM) vom 8.-9. Mai 2005 im Bildungshaus St. Gabriel in Mödling

Wenn nach Orientierung im pluralistisch verfassten geistigen Klima des ehemals christlichen Europa gefragt werden soll, dann ist es nötig, sich mit einer geistigen Grundströmung auseinanderzusetzen, die in besonderer Weise der Moderne ihre Signatur aufgedrückt hat und die in verschiedenen Formen und unter verschiedenen Namen auch heute eine starke Wirksamkeit entfaltet: mit dem Liberalismus.

Unter dem Sammelbegriff „Liberalismus“ werden unterschiedliche Positionen zusammengefasst, die einer gemeinsamen Wurzel entstammen, nämlich dem Denken der Aufklärung und den damit verbundenen gesellschaftspolitischen Prozessen, die sich aber im Laufe der Entwicklung zusehends verselbständigt haben in einen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und geistig-kulturellen Liberalismus.[1] Zusammenhänge bleiben freilich weiterhin bestehen. Im Folgenden wird Bezug genommen auf den geistig-kulturellen oder den weltanschaulichen Liberalismus. Insbesondere interessiert die Frage, wie denn ein solcher Liberalismus mit der Gottesfrage umgeht und sich gegenüber dem Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens sowie der gesellschaftlichen Stellung der Kirche positioniert.[2]

1. Geistesgeschichtlicher Hintergrund und inhaltliche Ausprägung

Der weltanschauliche Liberalismus wird hier als jene geistige Strömung begriffen, die ihren geschichtlichen Ausdruck vor allem seit der Französischen Revolution von 1789 mit ihren Grundforderungen von „Liberté, Égalité, Fraternité“ gefunden hat.[3] Das Postulat der „Liberté“ war im historischen Kontext auf die Freiheit des Bürgers bezogen, der er sich in einer neuen Gleichheit gegenüber jedermann erfreuen konnte, insbesondere gegenüber dem Adel und dem Klerus.[4]

Geistig bedeutete „Liberté“ die unumschränkte Freiheit des Denkens, welche weder durch die Konventionen und Vorgaben der Moral noch der Religion gebunden sein sollte. Der Mensch wurde radikal als Einzelwesen begriffen, dessen nunmehr möglicher Selbstverwirklichung nichts entgegenstand und nichts entgegenstehen durfte. Das revolutionäre Pathos dieser Idee drängte auf Durchsetzung um jeden Preis. Wer immer sich dem entgegenstellte, wurde als Feind der Freiheit angesehen, der für den Prozess der Veränderung als Störfaktor galt, den man wenn nötig auch mit Gewalt ausschließen oder neutralisieren musste.

Im Sinn des Dualismus von René Descartes wird jede Art von Rückbindung des menschlichen Geistes an die sichtbare Natur aufgegeben. Es geht künftig nicht mehr darum, die die objektive Bedeutung bestimmter Dinge zu erfassen. Stattdessen werden subjektive Konstruktionen des menschlichen Bewusstseins zur eigentlichen Form der Realität und ihrer Wahrnehmung und Veränderung. Vom Versuch, die menschliche Herrschaft als radikale Autonomie überall durchzusetzen, ist sowohl die unbelebte Natur wie auch die Welt der Tiere und Pflanzen, aber auch die „soziale Natur“ des menschlichen Zusammenlebens betroffen.

Die wissenschaftlich-technische Weltsicht schafft sich ihr theoretisches Fundament im Szientismus und im Positivismus. Was zählt, ist allein das, was man wägen, zählen und messen und damit auch in wissenschaftlich-technischer Weise beherrschen und verändern kann. Man beschränkte sich auf das sinnlich Erfassbare und Messbare, wodurch Werte zu bloß statistischen und soziologischen Größen relativiert wurden. Die Vernunft als umfassende Fähigkeit der Wahrheitserkenntnis einschließlich des Zugangs zur metaphysischen und religiösen Dimension des Menschseins wurde zur bloßen Zweckrationalität degradiert.

Wenn Gott überhaupt noch anerkannt wird, dann als Gott des Deismus, der als wie immer gedachter Ursprung des Bestehenden so lange eine Leerstelle ausfüllt, bis der wissenschaftliche Fortschritt auch diese vermeintlich letzte Lücke der Welterklärung geschlossen hat.

Keinen Platz gibt es für den Gott der jüdisch-christlichen Offenbarung, der aktiv in die Geschichte eingreift.[5] Die Menschwerdung Gottes wird zum überholten Mythos, der Gedanke an die Erlösung wird als Entfremdung des Menschseins und als Infragestellung der unbegrenzten positiven Qualitäten des autonomen Individuums kritisiert. Gäbe es Gott im biblischen Sinn wirklich, dann wäre die menschliche Freiheit bedroht, so der Grundtenor der liberalen Befürchtungen. Es dürfe keine Grenzen und Schranken für menschliche Willkür mehr geben. Der wissenschaftliche Fortschritt werde im Rahmen des Prozesses der Evolution die Menschheit auf jene Stufe hinführen, wo zuvor als Projektion eigener unerfüllbarer Wünsche und Sehnsüchte noch Gott gestanden sei. Der Weg zum Atheismus scheint offen. Damit fällt die Definitionshoheit für den Sinn des Lebens und insbesondere für das Kriterium des sittlich Guten und Bösen allein dem Menschen zu.

2. Zur gegenwärtigen Situation im säkularen Europa

Die skizzierte geistesgeschichtliche Entwicklung und Leitidee des weltanschaulichen Liberalismus ist auch im Europa der Gegenwart wirksam. Zwar ist eine gewisse Ernüchterung eingetreten, insofern im Gefolge zweier Weltkriege doch vielen klar geworden ist, dass das Projekt der Moderne aufgrund der „Dialektik der Aufklärung“ nicht automatisch auf Erfolg programmiert war. In den wenigsten Fällen war man jedoch bereit, die traditionellen Antworten wieder zur Geltung zu bringen.[6] Vielfach trat an die Stelle der Euphorie des Fortschritts eine Art resignativer Nihilismus, welcher sich auch in der Flucht in den Materialismus und Konsumismus zum Ausdruck bringt.

Einerseits gibt es Reste des marxistischen Denkens, welche die sittliche Freiheit des Menschen im kollektivistisch verstandenen sozialen Gefüge aufheben; andererseits wird die Freiheit im postmodernen kulturellen Klima als unbegrenzte Größe verstanden, welche keine Schranken mehr kennt, zugleich aber auch ihren Sinngehalt verliert, da sowohl der Verantwortungsbezug zum Menschen wie auch gegenüber Gott verloren gegangen ist.[7]

Generell trägt das Erbe des weltanschaulichen Liberalismus dazu bei, dass in Fragen des Glaubens und der sittlichen Lebensform die Wahrheitsfrage nicht mehr gestellt werden darf.[8] Unter dem Vorwand angeblicher Toleranz wird derjenige bekämpft, der es wagt, eine Auffassung als wahr zu bezeichnen oder gar sittliche und religiöse Verpflichtungen aufzuzeigen.[9] Meist wird die verfassungsmäßig garantierte Freiheit des Glaubens und der Religion einseitig unter dem Vorzeichen des Indifferentismus und des Relativismus interpretiert.[10]

Der faktische religiöse und im agnostischen und atheistischen Denken auch religionslose Pluralismus spiegelt auf diese Weise das Lebensgefühl der Gegenwart, die sich als Postmoderne zwar von gewissen Grundlagen der Moderne befreien will, diese aber gerade in ihrer Negation wieder neu voraussetzt und insbesondere das geistesgeschichtliche Signum eines weltanschaulichen Liberalismus durchträgt und in neuer Weise zu einem Höhepunkt führt.

3. Die Antwort des christlichen Glaubens und der katholischen Kirche

Wie kann und soll die Kirche auf die kulturellen und sozialen Tendenzen der Gegenwart reagieren, insbesondere auf die bleibende Herausforderung durch den weltanschaulichen Liberalismus?[11]

Eine der Schlüsselfragen, die von der Enzyklika „Veritatis splendor“ aufgegriffen wurden, bildet das Verhältnis von Freiheit und göttlichem Gesetz.[12] Papst Johannes Paul II. erörterte diese Problematik als ein Grundanliegen des Dokuments und übte Kritik an Positionen, die einen falschen Freiheitsbegriff voraussetzen. Auch wenn er den Begriff des „Liberalismus“ nur ein einziges Mal anführte[13], so ist der Sache nach an vielen Stellen der Enzyklika jene geistige Strömung gemeint, die auch innerhalb der Kirche Einfluss erlangt hat.

Der christliche Glaube und die katholische Kirche anerkennen den fundamentalen Wert der menschlichen Freiheit.[14] Diese darf jedoch nicht von ihrem Bezug auf die Wahrheit Gottes in Schöpfung und Erlösung getrennt werden. Erst in der freien Bindung an das göttliche Gesetz, welches ein Gesetz der Liebe ist, findet der Mensch die Erfüllung und letzte Sinndimension seiner Existenz. So sehr sich die Kirche daher auch für gerechte ökonomische und gesellschaftliche Bedingungen einsetzt, die dem Menschen die Ausübung seiner Rechte und Grundfreiheiten ermöglichen, so wenig darf die innere Ausrichtung und Bindung der Freiheit des Menschen auf die Wahrheit Gottes und der eigenen Person als Abbild Gottes in Vergessenheit geraten.[15]

Die Diskussion über die Europäische Konstitution und der so genante „Buttiglione-Fall“ haben gezeigt, dass zu Beginn des 3. Jahrtausends eine der wichtigsten Herausforderungen für die Kirche die Konfrontation mit dem Säkularismus und dem Laizismus bleibt.[16]

Die „Lehrmäßige Note“ der Kongregation für die Glaubenslehre „zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben“ vom 24. November 2002 hebt heraus, dass der Einsatz von katholischen Christen für das soziale und politische Leben unverzichtbar ist. Insbesondere ist es die Berufung und Sendung der Laien, die kraft Taufe und Firmung das Zeugnis für den christlichen Glauben in ihrem Leben abgeben sollen. Dabei ist es nötig, dass sie in den unterschiedlichen Wirkungsbereichen fachliche Kompetenz erwerben. Auch müssen sie mit Menschen zusammenarbeiten, die andere religiöse und politische Überzeugungen haben.

Die Kirche wendet sich gegen eine Abdrängung der religiösen und wertmäßigen Überzeugungen von Christen in den Privatbereich und erinnert an ihre spezifische Verantwortung in der Welt. Einerseits dürfen sie von ihrem Gewissen aus keinen Gesetzen die Zustimmung geben, die gegen die Grundsätze des natürlichen Sittengesetzes und die Weisungen der göttlichen Offenbarung verstoßen; andererseits gibt es Situationen, in denen, um noch Schlimmeres zu verhüten, bestimmte Kompromisse eingegangen werden müssen. Dies darf jedoch nicht zu einer Unklarheit über den grundsätzlichen Standpunkt katholischer Politiker führen.[17]

Auf diesem Hintergrund hält die Kirche an der verfassungsmäßig garantierten freiheitlichen Gesellschaft fest, die in diesem Sinn „liberal“ ist und sich durch Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung auszeichnet. Zugleich betont sie die notwendige Rückbindung an Werte und insbesondere an die unverfügbare Menschenwürde und die darin verankerten Menschenrechte. Weltanschauliche Liberalismus-Kritik darf nicht den Anschein erwecken, als würde das demokratische System als solches abgelehnt. Vielmehr geht es um eine Überwindung der individualistischen Engführung und um eine auch für die Demokratie notwendige Bindung an Grundlagen, von denen sie ihre Rechtfertigung und Lebenskraft bezieht.[18]

Papst Johannes Paul II. sah sich Kritik und Missverständnissen ausgesetzt, weil er es gewagt hatte, in „Centesimus annus“ auf die unaufgebbare Wertegrundlage der Demokratie hinzuweisen:

„Die Kirche weiß das System der Demokratie zu schätzen, insoweit es die Beteiligung der Bürger an den politischen Entscheidungen sicherstellt und den Regierten die Möglichkeit garantiert, sowohl ihre Regierungen zu wählen, sie zu Rechenschaft zu ziehen und sie dort, wo es sich als notwendig erweist, sie auf friedliche Weise zu ersetzen. Die Kirche kann daher die Bildung geschlossener Führungseliten, die aus Sonderinteressen oder aus ideologischen Absichten die Staatsmacht an sich reißen, nicht billigen. Eine wahre Demokratie ist nur in einem Rechtsstaat und auf der Grundlage einer richtigen Auffassung vom Menschen möglich. Sie erfordert die Erstellung der notwendigen Vorbedingungen für die Förderung sowohl der einzelnen Menschen durch die Erziehung und die Heranbildung zu den echten Idealen als auch der ‚Subjektivität’ der Gesellschaft durch die Schaffung von Strukturen der Beteiligung und Mitverantwortung. Heute neigt man zu der Behauptung, der Agnostizismus und der skeptische Relativismus seien die Philosophie und die Grundhaltung, die den demokratischen Formen des politischen Lebens entsprechen. Alle, die überzeugt sind, die Wahrheit zu kennen, und an ihr festhalten, seien vom demokratischen Standpunkt her nicht vertrauenswürdig, weil sie nicht akzeptieren, dass die Wahrheit von der Mehrheit bestimmt werde und dass sie entsprechend den jeweiligen Trends wandelbar sei. Wenn nämlich keine letzte Wahrheit anerkannt wird, die das politische Handeln leitet und ihm Orientierung gibt, können Ideen und Überzeugungen nur allzu leicht für Machtzwecke missbraucht werden. Eine Demokratie ohne Werte verwandelt sich, wie die Geschichte beweist, leicht in einen offenen oder hinterhältigen Totalitarismus.“[19]

„Die Kirche achtet die berechtigte Autonomie der demokratischen Ordnung. Es steht ihr nicht zu, sich zugunsten der einen oder anderen institutionellen oder verfassungsmäßigen Lösung zu äußern. Der Beitrag, den sie zu dieser Ordnung anbietet, ist die Sicht von der Würde der Person, die sich im Geheimnis des Mensch gewordenen Wortes in ihrer ganzen Fülle offenbart.“[20]

Gegenüber einem primär auf das religiöse Gefühl setzenden Pathos „neuer Religiosität“, der sich außerhalb der Kirche im Boom esoterischer Angebote auf dem „Supermarkt der Religion“ bemerkbar macht und innerhalb der Kirche eine Versuchung für gewisse Bewegungen nicht nur explizit charismatischer Ausrichtung darstellt, gilt es das recht verstandene Zueinander von Glaube und Vernunft neu zu betonen und herauszustellen.[21] Der christliche Glaube befreit zum selbständigen Denken und setzt der menschlichen Freiheit keine willkürliche Grenze ihrer Entfaltung, sondern zeigt ihren tiefsten Sinngehalt auf, den sie in der Erfüllung des Doppelgebotes der Gottes- und Nächstenliebe findet.

In diesem Zusammenhang ist auch die Bedeutung einer naturrechtlichen Neubesinnung hervorzuheben, welche im Rahmen einer „Evangelisierung der Kultur“ erfolgen muss: Dabei wird die Kirche „auf die Unzulänglichkeit und Unangemessenheit einer vom Szientismus inspirierten Auffassung hinweisen, die einzig und allein dem experimentellen Wissen objektive Gültigkeit zuerkennen will, und zudem die sittlichen Kriterien anbieten, die der Mensch als in seine Natur eingeschrieben besitzt.“[22]

In besonderer Weise ist es nötig, Wesen und Begriff des Gewissens und dessen innere Hinordnung auf die Wahrheit des Guten neu zu entdecken. Ein „liberales“ Gewissen, das die eigene Wahl nur bestätigt und keine Vorgaben macht, an denen wir uns orientieren können und in denen die Transzendenz Gottes auf geheimnisvolle Weise anwesend ist, wird dabei wenig hilfreich sein.[23] Diese Art von Selbstrechtfertigung lässt den Menschen allein. Der Liberalismus als Ideologie des Freisein-Wollens von der Wahrheit macht den Menschen unfähig zu echter Gemeinschaft mit den Mitmenschen und mit Gott.

Es genügt für die Kirche, ihrem Grundauftrag treu zu bleiben: Das Evangelium Christi zu verkünden, möglichst vielen das Angebot der Versöhnung mit Gott nahe zu bringen und die Menschen in der Gottes- und Nächstenliebe zu bestärken und zu ermutigen. Auf diese Weise findet die menschliche Freiheit ihr Ziel, wird der Mensch in seiner Würde geachtet und die Kultur des Lebens in einer „Zivilisation der Liebe“ auferbaut.[24] Viele Menschen guten Willens werden bereit sein, diesen Weg der Wahrheit und Liebe mit der Kirche zusammen zu gehen, wenn man sie in Respekt vor ihrem Gewissen dazu einlädt.

 

 

 


 

[1] Vgl. Lothar Gall, Liberalismus, in: Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, hg. v. d. Görres-Gesellschaft, Freiburg-Basel-Wien, 19877, Bd 3, 916–921; Herbert R. Ganslandt, Liberalismus, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hg. v. Jürgen Mittelstraß, Unveränderte Sonderausgabe Stuttgart Weimar 2004, Bd 2, 605–606. Der Liberalismus-Begriff als solcher hat sich im Kontext von Aufklärung, Französischer Revolution und Napoleonischer Herrschaft herausgebildet und wurde bald im politischen, ökonomischen und weltanschaulich-religiösen Sinn verwendet. Ideengeschichtlich ist der Liberalismus-Begriff zu einer „Interpretationskategorie für vielfältige Bewegungen“ geworden. „Diesem Umstand ist es zuzuschreiben, dass der Begriff des Liberalismus in seiner Geschichte schillert und dass sich miteinander konkurrierende Spielarten des Liberalismus herausgebildet haben. Der Liberalismus ist keine reine Lehre.“ – Horst Dräger, Liberalismus. IV. Der Liberalismus in ideengeschichtlicher Betrachtung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter / Karlfried Gründer, Bd 5, 264–271, hier 265. Gewisse Elemente, die im Hinblick auf die weltanschauliche Ausprägung als typisch „liberal“ gelten und die Idee als solche verkörpern, werden im Folgenden herausgearbeitet und einer kritischen Analyse unterzogen. Vertreten werden sie von unterschiedlichen Autoren in je eigener Ausprägung, was in diesem Zusammenhang sekundär ist. Bei der Darstellung werden bestimmte Merkmale in typologischer Zuspitzung präsentiert.

[2] Vieles, was für die Katholische Kirche festgestellt wird, gilt auch für andere christliche Kirchen und kirchliche Gemeinschaften. Dennoch sollen die Unterschiede im Hinblick auf eine redliche und fruchtbringende ökumenische Zusammenarbeit nicht übersehen werden. Angesichts des glaubenszersetzenden Säkularismus braucht es die vereinten Anstrengungen aller Christen, ja aller glaubenden Menschen insgesamt.

[3] Dabei darf nicht übersehen werden, dass die säkularisierte Trias von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ letztlich auf christlichem Ideengut gründet, wie Johannes Paul II. bei seinem ersten Besuch in Frankreich betont hat: Homilie in Le Bourget am 1. Juni 1980, Nr. 5, in: AAS 72 (1980) 720. Vgl. Pontifical Council for Justice and Peace, Compendium of the Social Doctrine of the Church (= CSD), Vatican 2004, Nr. 390.

[4] Dies fand seinen Niederschlag in den am 26. August 1789 verkündeten Menschen- und Bürgerrechten („Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“). Sowohl individuelle wie auch politische und ökonomische Freiheitsrechte wurden dabei eingefordert. Vgl. Gert van den Heuvel, Der Freiheitsbegriff der Französischen Revolution. Studien zur Revolutionsideologie (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd 31), Göttingen 1988.

[5] Vgl. Joseph Kardinal Ratzinger, Skandalöser Realismus? Gott handelt in der Geschichte (Urfelder Texte 4), Bad Tölz 20052.

[6] Vgl. z.B. Alasdair MacIntyre, der mit seinem Hauptwerk „After virtue“ (1981) an die Tradition der aristotelisch-thomistischen Tugendethik anknüpfen und diese für die politische Ethik der Gegenwart fruchtbar machen möchte. Ein weiterer Kritiker der Dialektik der Aufklärung ist Günter Rohrmoser, der das „Elend der kritischen Theorie“ beklagt hat (Freiburg 1970) und nun eine „geistige Wende“ fordert: Geistige Wende. Christliches Denken als Fundament des Modernen Konservativismus, München 2000.

[7] Der Begriff der Freiheit habe „in der Neuzeit vielfach mythische Züge angenommen. Freiheit wird nicht selten anarchisch und anitinstitutionell gefasst und wird damit zu einem Götzen: Menschliche Freiheit kann immer nur Freiheit des rechten Miteinander, Freiheit in der Gerechtigkeit sein, andernfalls wird sie zur Lüge und führt in die Sklaverei.“ – Joseph Ratzinger (nunmehr: Benedikt XVI.), Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen, Freiburg 2005.

[8] Auf die prozedurale Ebene des friedlichen Umgangs miteinander, auch in Konfliktsituationen, scheint sich unter weitgehendem Verzicht auf gemeinsame Wahrheitsüberzeugungen auch John Rawls in seinem Konzept der Gerechtigkeit als Fairness zurückzuziehen, der sich freilich gegen den Vorwurf wehrt, eine bloß formale Ethik zu vertreten: vgl. Politischer Liberalismus, Frankfurt 1998/2003 (original: Political Liberalism, New York, 1993).

[9] In vielen Fällen wird die Theorie des Relativismus als Rechtfertigungsfigur für die demokratische Gesellschaft herangezogen, was sich direkt gegen die Freiheit des einzelnen wenden kann, die man vorgeblich zu schützen gewillt ist: vgl. Ratzinger, Werte, 56 f. Die Vielschichtigkeit des Toleranzbegriffs als Weg zur freien Suche und Annahme der Wahrheit, aber auch als Weise, der Wahrheitsfrage auszuweichen, wird in den Zeugnissen sichtbar, die Heinrich Schmidinger in einem von ihm herausgegebenen Sammelband zugänglich gemacht hat: Wege zur Toleranz. Geschichte einer europäischen Idee in Quellen, Darmstadt 2002.

[10] Zur verfassungsmäßig garantierten Religionsfreiheit vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Religionsfreiheit, in: Harald Baer / Hans Gasper / Joachim Müller / Johannes Sinabell (Hg.), Lexikon neureligiöser Gruppen, Szenen und Weltanschauungen. Orientierungen im religiösen Pluralismus, Freiburg 2005, 1080–1086.

[11] Die Antwort der Kirche auf das vielschichtige Phänomen des Liberalismus muss differenziert ausfallen. Insbesondere hat die katholische Soziallehre inzwischen die demokratische Prägung des freiheitlichen Verfassungsstaates, welcher ein Maximum an sozial verträglichen Freiheitsrechten garantiert, im Prinzip anerkannt. Zum historisch belasteten Verhältnis der Kirche zum Liberalismus vgl. Victor Conzemius, Liberalismus. III. Kirche und Liberalismus, in: LThK3, Bd 6, 890–892.

[12] Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika „Veritatis splendor“ (= VS) über einige grundlegende Fragen der kirchlichen Morallehre vom 6. August 1993.

[13] Nämlich in VS 46: „Die Vorliebe für die empirische Beobachtung, die Verfahren wissenschaftlicher Verobjektivierung, der technische Fortschritt, gewisse Formen von Liberalismus haben die zwei Begriffe einander gegenübergestellt, als wäre die Dialektik – wenn nicht gar der Konflikt – zwischen Freiheit und Natur ein Strukturmerkmal der menschlichen Geschichte.” In der Enzyklika „Centesimus annus“ (= CA) vom 1. Mai 1991 ist vom Liberalismus primär im Kontext eines Wirtschaftsverständnisses die Rede, das auf staatliche Hilfe und Eingriffe zugunsten der Schwachen und Armen um der Freiheit des Marktes willen verzichten will: vgl. Nr. 10 und 60.

[14] „In the midst of mankind and in the world she [= the Church] is the sacrament of God’s love and, therefore, of the most splendid hope, which inspires and sustains every authentic undertaking for and commitment to human liberation and advancement.“ – CSD, Nr. 60.

[15] Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion „Libertatis conscientia“ über die christliche Freiheit und Befreiung, 22. März 1986, Nr. 75; Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1740; CSD, Nr. 138–143.

[16] Im Unterschied zu einer recht verstandenen Laizität, die die relative Autonomie der verschiedenen Sach- und Wirklichkeitsbereiche achtet (vgl. 2. Vatikanisches Konzil, GS 36), wird in der Ideologie des Laizismus dem politisch-gesellschaftlichen Handeln auf der Grundlage religiöser und insbesondere christlicher Wertüberzeugungen von vornherein das Recht auf Verwirklichung abgesprochen.

[17] Z.B. in der Abtreibungsfrage oder in der Frage der gesetzlichen Anerkennung oder Förderung homosexueller Partnerschaften: vgl. Johannes Paul II., Enzyklika „Evangelium Vitae“ über den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens vom 25. März 1995, Nr. 73.

[18] Von Ernst-Wolfgang Böckenförde, dem früheren deutschen Verfassungsrichter, stammt das berühmte Diktum: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt, mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren versuchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“ – Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt 1976, 60. Es geht hier um Tugenden und Werte, Orientierungen und Grundeinstellungen, Wissen und Kompetenzen, welche das demokratische Engagement überhaupt erst ermöglichen.

[19] CA, Nr. 46.

[20] CA, Nr. 47.

[21] Vgl. vor allem Johannes Paul II., Enzyklika “Fides et ratio” über das Verhältnis von Glaube und Vernunft vom 14. September 1998.

[22] Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben „Ecclesia in Europa“ zum Thema „Jesus Christus, der in seiner Kirche lebt – Quelle der Hoffnung für Europa“ vom 28. Juni 2003, Nr. 58. Vgl. dazu auch Josef Spindelböck, Von den Zielen des Menschseins. Anregungen zu einer Kriteriologie des Sittlichen im Rahmen der Sozialethik, in: Theologisches 34 (2004) 395–404.

[23] Zur Kritik am liberalen Gewissenbegriff vgl. George Cardinal Pell, The Inconvenient Conscience, in: First Things 153 (Mai 2005) 22–26.

[24] Den christlichen Humanismus neu entdecken zu helfen ist das Grundanliegen von George Weigel, The Cube and the Cathedral. Europe, America, and Politics Without God, New York 2005.