Aurelius Augustinus
Exzerpt aus: Aktives Widerstandsrecht. Die
Problematik der sittlichen Legitimität von Gewalt in der Auseinandersetzung mit
ungerechter staatlicher Macht. Eine problemgeschichtlich-prinzipielle
Darstellung (Moraltheologische Studien, hg. v. J.G. Ziegler mit J. Piegsa, Systematische
Abteilung, Bd 20), EOS Verlag, Erzabtei St. Ottilien 1994 (= gedruckte Fassung
der 1993 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien
eingereichten Dissertation)
Kaum überschätzen läßt
sich der geistige Einfluß des Bischofs von Hippo Regius, Aurelius Augustinus
(354-430). Seine Anschauungen über Sinn und Grenzen der Staatsgewalt und ein
damit verbundenes passives Widerstandsrecht haben eine einzigartige Wirkungsgeschichte im christlichen Denken des
Mittelalters und bis heute erfahren.
Herausgefordert von
der Eroberung Roms durch die Westgoten unter Alarich (410)[1]),
schrieb Augustinus von 413 bis 426 das aus 22 Büchern bestehende monumentale
Werk De civitate Dei (Der
Gottesstaat).[2])
Die weit ausholende Abhandlung untersucht, ausgehend von den drängenden Fragen
der Zeit, in heilsgeschichtlich-eschatologischer Perspektive das gegenseitige
Verhältnis von Welt- und Gottesstaat.
Die Beziehung zwischen Welt- und Gottesstaat
Verfehlt wäre es, in
allzu einfacher Logik den Gottesstaat direkt mit der sichtbaren Kirche und den
Erdenstaat mit einem bestimmten politischen Gemeinwesen oder der staatlichen Gemeinschaft
ganz allgemein gleichzusetzen. Die Begriffe sind vielmehr im Text selber
mehrschichtig[3]):
Die pilgernde Kirche
auf Erden gehört zwar zum Reich Gottes als dem Gottesstaat. Dieser vollendet sich aber erst in der himmlischen
Herrlichkeit. Der Erdenstaat wird oft
als Gesamt der gottfeindlichen Kräfte begriffen; an anderen Stellen umfaßt er
all das, was zum diesseitigen Leben gehört. Insofern gibt es ein vorläufig noch
notwendiges Ineinander von Welt- und
Gottesstaat, deren Trennung Gott am Ende der Welt vollziehen wird.[4])
Eine gewisse Verbindung beider Staaten für das Diesseits ist gottgewollt; der
Christ ist in diesem Sinn Bürger zweier Staaten.[5])
Der
"Gottesstaat" nimmt den "Erdenstaat" in seinen Dienst,
wobei jener aber die kritische Distanz bewahren muß, um nicht der Versuchung zu
unterliegen, sich selbst aufzugeben:
"Es bedient sich also auch der
himmlische Staat auf seiner Pilgerschaft des irdischen Friedens und erstrebt
und schützt die menschliche Willensübereinstimmung in den zur sterblichen Natur
des Menschen gehörenden Dingen, so weit
es der Schutz der Frömmigkeit und Religion zuläßt, und bringt so den
irdischen Frieden in Beziehung zum himmlischen."[6])
Göttlicher Ursprung der Staatsgewalt
Ausdrücklich und
konsequent vertritt Augustinus die Lehre vom göttlichen Ursprung der
Staatsgewalt und unterstreicht die entsprechenden biblischen Aussagen. Gott
allein verleiht die Herrschaft nach dem Plan seiner Vorsehung:
"Jener eine Gott, von dem die
Rede war, der, weil er allein der wahre Gott ist, Urheber und Spender des
Glückes ist, gibt selbst an Gute und Böse die irdischen Reiche. Und er tut das
nicht blindlings und tut es auch nicht als Zufall, da er ja Gott ist und nicht
Fortuna, sondern er tut es nach einer Ordnung der Dinge und Zeiten, die uns
verborgen und ihm wohlbekannt ist."[7])
Selbst die Herrschaft
der Tyrannen stammt in gewisser Hinsicht vom himmlischen König:
"Auch solchen Menschen wird
trotzdem nur von der Vorsehung des höchsten Gottes die Herrschgewalt gegeben,
sobald Gott eben die Verhältnisse unter den Menschen solcher Herrscher für
würdig erachtet."[8])
Staat und Gerechtigkeit
Berühmt geworden sind
die starken Worte Augustins:
"Was sind schließlich Reiche
ohne Gerechtigkeit andres als große Räuberbanden, da doch Räuberbanden auch
nichts andres sind als kleine Reiche?"[9])
Im 19. Buch,
Kap. 21 des "Gottesstaates"[10])
greift er die Definition des Staates bei Cicero auf. Das
Gemeinwesen ist nach Cicero[11])
"die Sache des Volkes; ein Volk aber sei nicht jede Ansammlung einer
Menge, sondern eine Ansammlung, die in der Anerkennung
des Rechtes und der Gemeinsamkeit des Nutzens sich vereinigt habe, wie er
bestimmt."
Augustinus fragt, ob
Rom demzufolge jemals ein wirkliches Gemeinwesen war. Wenn jene Begriffsbestimmung angewandt wird[12]),
ist das Ergebnis Augustins negativ. Nach ihr gehört nämlich zum Wesen des
Staates grundlegend die Gerechtigkeit. Falls diese fehle, bestehe kein wirkliches
Recht. Sie sei dort nicht vorhanden, wo Menschen sich den Dämonen anstatt dem
wahren Gott unterordneten.[13])
Die fundamentale Idee der Gerechtigkeit ergibt also das Kriterium, demgemäß sich ein entsprechend
organisiertes soziales Gebilde mehr oder weniger "Staat" im
eigentlichen Sinne nennen darf.
Ähnliches gilt im
einzelnen für die Gesetze eines
Staates, sodaß Augustinus in einem anderen Werk einen Dialogpartner sagen läßt:
"Mir scheint etwas kein Gesetz zu sein, wenn es nicht gerecht ist."[14])
Der Rekurs auf die
Ordnung der Gerechtigkeit leitet auch die augustinische Bestimmung des Friedens als einer "geordneten
Eintracht unter befehlenden und gehorchenden Bürgern im Staate".[15])
Passiver Widerstand
Schuldlos Unrecht zu
leiden hat für den Christen eine völlig neue Qualität: Der Jünger folgt hierin
dem Beispiel seines Meisters Jesus.
Aufgrund seiner
Ewigkeitsperspektive ist der Gläubige dem rein irdisch gesinnten Menschen
gnadenhaft überlegen: So kann und soll er sich durch geduldiges Ertragen auch
des schlechtesten, ja sogar des schändlichsten Staates einen Platz im Himmel
erwerben.[16])
"Wenn man in Betracht zieht,
wie rasch das irdische Leben der Sterblichen verläuft und endigt, so fragt man
sich, was es ausmacht, unter was für einer Herrschaft der dem Tode verfallene
Mensch lebt, solange ihn seine Herrscher
nicht zu Gottlosigkeit und Unredlichkeit nötigen."[17])
Die letzte
Einschränkung setzt dem Ertragen ungerechter Herrschaft eine für gelebtes
Christentum unüberschreitbare Grenze und ist darum von entscheidender
Bedeutung.
Eine wichtige
Unterscheidung trifft Augustin: Die gottgewollte Unterwerfung des Menschen
unter die staatliche Gewalt gilt nach seiner Auslegung zu Röm 13,5 nur für jene
Dinge, die auf dieses zeitliche Leben bezogen sind:
"Weil er aber sagt: 'Seid also
gemäß der Notwendigkeit untertan!', so gilt das, wie wir es verstehen, in der
Weise, daß die Pflicht zur Unterordnung wegen dieses Lebens notwendig ist. Wir
sollen keinen Widerstand leisten, wenn jene (uns) etwas wegnehmen wollen gemäß
dem, wozu ihnen die Macht gegeben ist: bezüglich der zeitlichen Dinge. Weil
diese aber vergehen, darum ist auch diese Unterwerfung nicht hinsichtlich der
bleibenden Güter zu leisten, sondern nur in den für diese Zeit notwendigen
Dingen."[18])
Damit sind der
Staatsgewalt zugleich die Grenzen gesetzt, da jene Angelegenheiten
ausgeschlossen werden, die nicht zu den 'res temporales' gehören, nämlich
Glaubens- und Sittenfragen, die ja das ewige Leben betreffen. Implizit bejaht
Augustinus also dort ein Widerstandsrecht, wo die weltliche Gewalt deren
gottgewollten Vollzug hindert.[19])
Widerstand kann für Augustinus aber nur passiv sein, d.h. im Nichtgehorchen gegenüber einem Befehl bestehen,
der dem Gebot Gottes entgegengesetzt ist.
Umso wünschenswerter
ist eine Situation, in der selbst passiver Widerstand nicht mehr notwendig sein
wird:
"Sobald es aber Menschen gibt,
die, mit wahrer Frömmigkeit beschenkt, ein gutes Leben führen und die Kenntnis,
Völker zu regieren, besitzen, kann es für die Verhältnisse der Menschen kein
größeres Glück geben, als wenn sie [durch das Erbarmen Gottes[20])]
zur Macht gelangen."[21])
[1]) Das unmittelbare Anliegen war es, die im Glauben erschütterten Christen zu stärken; hatte es doch den Anschein, daß der Christengott nicht mächtig genug gewesen sei, die Stadt Rom vor dem Ansturm der "Barbaren" zu schützen. Genau das wurde ihnen von den Heiden zum Vorwurf gemacht: Die Götter würden ihre Mißachtung durch die vor kurzem geschehene Abschaffung ihres Kultes nun bestrafen.
[2]) Aurelius Augustinus,
De civitate Dei libri XXII, in: CC Ser. lat. 47 und
48.
[3]) Vgl. zur Unterscheidung: Altaner/Stuiber, Patrologie, 424; Perl, Einführung, in: Gottesstaat, ed. Perl, Bd 1, 25 f; Seybold, Augustin; Zsifkovits, Staatsgedanke, 89 f.
[4]) "Die beiden Staaten sind nämlich in dieser Welt ganz ineinander verschlungen und miteinander vermischt, bis sie durch das Letzte Gericht geschieden werden." ("Perplexae quippe sunt istae duae ciuitates in hoc saeculo inuicemque permixtae, donec ultimo iudicio dirimantur ...") - De civitate Dei, I 35, in: CC. Ser. lat. 47, 34; ed. Perl, Bd 1, 95.
[5]) Denn jener Teil des himmlischen Staates, "der in der sterblichen Welt als Pilger wandelt und aus dem Glauben lebt", zögert "dennoch nicht, den Gesetzen des Weltstaates zu gehorchen, durch die all das geregelt wird, was für die Erhaltung des sterblichen Lebens von Vorteil ist. Da die Sterblichkeit selbst beiden Staaten gemeinsam ist, wird auch die Eintracht unter beiden in bezug auf die Dinge, die zu dieser Sterblichkeit gehören, auf gleiche Art beobachtet werden." ("Ciuitas autem caelestis uel potius pars eius, quae in hac mortalitate peregrinatur et uiuit ex fide ... legibus terrenae ciuitatis, quibus haec administrantur, quae sustentandae mortali uitae adcommodata sunt, obtemperare non dubitat, ut, quoniam communis est ipsa mortalitas, seruetur in rebus ad eam pertinentibus inter ciuitatem utramque concordia.") - Ebd., XIX 17, in: CC Ser. lat. 48, 684; ed. Perl, Bd 3, 298.
[6]) "Vtitur ergo etiam caelestis ciuitas in hac sua peregrinatione pace terrena et de rebus ad mortalem hominum naturam pertinentibus humanarum uoluntatum compositionem, quantum salua pietate ac religione conceditur, tuetur atque appetit eamque terrenam pacem refert ad caelestem pacem ..." - Ebd., XIX 17, in: CC Ser. lat. 48, 685; ed. Perl, Bd 3, 299. Hervorhebung von mir.
[7]) "Deus igitur ille felicitatis auctor et
dator, quia solus est uerus Deus, ipse dat regna terrena et bonis et malis,
neque hoc temere et quasi fortuito, quia Deus est, non fortuna, sed pro rerum
ordine ac temporum occulto nobis, notissimo sibi ..." - Ebd., IV 33, in:
CC Ser. lat. 47, 126; ed. Perl, Bd 1, 258.
[8]) "Etiam
talibus tamen dominandi potestas non datur nisi summi Dei prouidentia, quando
res humanas iudicat talibus dominis dignas." - Ebd., V 19, in: CC
Ser. lat. 47, 155; ed. Perl, Bd 1, 306 f. Als Beweisstellen
aus der Schrift nennt Augustinus Spr 8,15 nach der Itala und Ijob 34,30.
Konkret werden von ihm dann sogar Tyrannen wie Nero und Domitian angeführt:
ebd., V 21, in: CC Ser. lat. 47, 157; ed. Perl, Bd 1, 310.
[9]) "Remota
itaque iustitia quid sunt regna nisi magna latrocinia? quia et latrocinia quid
sunt nisi parua regna?" - Ebd., IV 4, in: CC Ser. lat. 47, 101;
ed. Perl, Bd 1, 214.
[10]) In:
CC Ser. lat. 48, 687-689; ed. Perl, Bd 3, 303-306.
[11]) "... esse rem populi; populum autem non omnem coetum multitudinis, sed coetum iuris consensu et utilitatis communione sociatum esse determinat." - De re publica, 2,42,69, in: ed. Büchner, 243.245 (dt.), 242.244 (lat.). Hervorhebung von mir.
Da der Text Ciceros teilweise verloren gegangen ist, handelt es sich um die augustinische Wiedergabe Ciceros aus De civitate Dei, II 21, wo Augustin die Definition erstmals vorstellt und für eine umfassendere Erörterung auf später verweist (in: CC Ser.lat. 47, 53 f; ed. Perl, Bd 1, 130). Der Kreis schließt sich.
[12]) Doch hat Augustinus selbst eingeräumt, es gebe glaubhaftere Definitionen, nach denen Rom doch auf seine Weise schon ein Staat gewesen sei, welchen die früheren Römer allerdings besser verwaltet hätten als die späteren ("Secundum probabiliores autem definitiones pro suo modo quodam res publica fuit, et melius ab antiquioribus Romanis quam a posterioribus administrata est ...") - De civitate Dei, II 21, in: CC Ser.lat. 47, 55; ed. Perl, Bd 1, 133.
Im 19. Buch, Kap. 24 (in: CC Ser. lat. 48, 695 f; ed. Perl, Bd 3, 315 f), macht er sich selber die Definition zu eigen, ein Volk sei die Vereinigung einer vernunftbegabten Menge im einträchtigen Streben nach geliebten Dingen ("Populus est coetus multitudinis rationalis rerum quas diligit concordi communione sociatus"). Indes ändert diese Bedeutungsverschiebung des Begriffs "Volk" und damit des Staates als "Sache des Volkes" faktisch nichts an der Einschätzung Augustins bezüglich der Bedeutung der Gerechtigkeit für das staatliche Leben.
[13]) "Wenn darum das Gemeinwesen Sache des
Volkes ist und es kein Volk gibt, das nicht durch Übereinstimmung des Rechts
vereint ist, aber kein Recht existiert, wo keine Gerechtigkeit ist: dann folgt
ohne Zweifel, wo keine Gerechtigkeit ist, dort ist kein Gemeinwesen. Die
Gerechtigkeit ist nun aber die Tugend, die jedem das Seine zuteilt. Was für
eine Gerechtigkeit des Menschen also ist das, die den Menschen selbst dem
wahren Gott entzieht und den unreinen Dämonen unterwirft?" ("Ac per hoc, si res publica res est populi
et populus non est, qui consensu non sociatus est iuris, non est autem ius, ubi
nulla iustitia est: procul dubio colligitur, ubi iustitia non est, non esse rem
publicam. Iustitia porro ea uirtus est, quae sua cuique distribuit. Quae igitur
iustitia est hominis, quae ipsum hominem Deo uero tollit et inmundis daemonibus
subdit?") - Ebd., XIX 21, in: CC Ser. lat. 48, 686;
ed. Perl, Bd 3, 304. Eig. Üs.
[14]) "Mihi
lex esse non videtur, quae iusta non fuerit." - De libero arbitrio 1,33
= (nach anderer Zählung) 1,5,11; in: CC Ser. lat. 29, 217. Eig.
Üs.
[15]) "... ordinatam imperandi oboediendique concordiam ciuium." - De civitate Dei, XIX 16, in: CC Ser. lat. 48, 683; ed. Perl, Bd 3, 297.
Friede ist augustinisch erst dann als geordnete Eintracht zu definieren, "wenn jeder mit dem anderen darin übereinstimmt, was jedem zukommen soll, das heißt was dessen Recht ist." (Matz, Politik, 136) Somit hat jede Regression des Rechtsbegriffs auch negative Folgen für die Substanz des Friedensbegriffs (vgl. ebd., 134).
[16]) Vgl.
De civitate Dei, II 19, in: CC Ser. lat. 47, 51;
ed. Perl, Bd 1, 126.
[17]) "Quantum
enim pertinet ad hanc uitam mortalium, quae paucis diebus ducitur et finitur,
quid interest sub cuius imperio uiuat homo moriturus, si illi qui imperant ad
impia et iniqua non cogant?" - Ebd., V 17, in: CC Ser. lat. 47, 149;
ed. Perl, Bd 1, 297 f. Hervorhebung von mir.
[18]) "Quod autem ait, Ideoque necessitati subditi estote, ad hoc valet, ut intelligamus quia necesse est propter hanc vitam subditos nos esse oportere, non resistentes si quid illi auferre voluerint, in quod sibi potestas data est, de temporalibus rebus; quae quoniam transeunt, ideo et ista subjectio non in bonis quasi permansuris, sed in necessariis huic tempori constituenda est." - Expositio, Kap. 74 zu Röm 13,5, in: PL 35, 2084. Eig. Üs.
[19]) Vgl. Affeldt, Gewalt, 95 und 109.
[20]) Ergänzung der Perl-Üs. meinerseits gemäß dem
lat. Text.
[21]) "Illi autem, qui uera pietate
praediti bene uiuunt, si habent scientiam regendi populos, nihil est felicius
rebus humanis, quam si Deo miserante habeant potestatem." - De civitate Dei,
V 19, in: CC Ser. lat. 47; ed. Perl, Bd 1, 307.