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Gewissen

Karl Hörmann: LChM 1976, Sp. 706-722

I. Gewissen hat etwas mit Wissen zu tun. Der lat. Ausdruck Conscientia, der durch Notker Labeo (+ 1022) mit Gewissen übersetzt wurde, kann die weitere Bedeutung Bewußtsein (c. psychologica) oder die engere Gewissen (c. moralis) haben. Gewissen ist eine besondere Art des Bewußtseins: Der Mensch kommt zu einem Wissen, von dem er in eigenartiger Weise betroffen wird; ein Sollen wird ihm bewußt, das ihn nicht gleichgültig läßt.

1. Die Existenz des Phänomens des Gewissens kann nicht weggeleugnet werden.

a) Der Einzelmensch macht die Erfahrung, daß ihm bei verschiedenen Gelegenheiten ein Sollen bewußt wird, das unbedingt Erfüllung verlangt und ihn anklagt, wenn er nicht Folge leistet. Dieselbe Erscheinung läßt sich bei allen Völkern der Vergangenheit und der Gegenwart feststellen, wie Geschichte und Ethnologie bezeugen, wenn auch manche Sprachen keinen eigenen Ausdruck für Gewissen haben. Von Gewissenlosigkeit zu reden kann nicht in dem Sinn richtig sein, daß manche Menschen kein Gewissen haben, sondern nur in dem Sinn, daß ihr Gewissen schwach entwickelt ist oder daß sie sich so verhalten, als ob sie kein Gewissen hätten.

b) Auch die Offenbarungsschriften reden daher vom Gewissen

Das AT hat zwar keinen eigenen hebräischen Ausdruck für Gewissen (im griech. Text Weish 17,11 steht syneidesis), kennt aber das Phänomen Gewissen und spricht davon in bildl. Redeweise. Meisterhaft stellt es das böse Gewissen an den Stammeltern nach dem Sündenfall (Gen 3,7–11), am Brudermörder Kain (Gen 4,10–12), an David (2 Sam 12,13; Ps 50 [51],5) dar. Häufig verwendet es für das, was wir Gewissen nennen, den Ausdruck Herz (2 Sam 24,10; 1 Kön 2,44; Ijob 27,6; Sir 37,13 f).

Das NT zeigt das Phänomen des bösen Gewissens an Judas (Mt 27,4) und Petrus (Mk 14,72). Jesus verwendet ebenfalls den Ausdruck Herz, wenn er von dem redet, was wir dem Gewissen zuschreiben (Mt 5,8; Mk 7,20–23; Lk 6,45; vgl. 1 Joh 3,19 f). Paulus kennt nicht nur das Phänomen, sondern auch den Ausdruck Gewissen (syneidesis bei ihm 20mal, z.B. Apg 23,1; 24,16; Röm 9,1; 2 Kor 1,12; 1 Tim 1,5.19; 3,9; 2_Tim 1,3; Tit 1,15; vgl. Hebr 13,18); er konnte dabei an das anknüpfen, was zum allg. Bildungsgut in hellenistischen Städten gehörte. Im besonderen sagt der Apostel von den Heiden, die das mosaische Gesetz nicht haben und dennoch seine Forderungen erfüllen: „Sie zeigen ja, daß die Forderungen des Gesetzes in ihr Herz geschrieben sind, wovon auch ihr Gewissen Zeugnis ablegt und die Gedanken, die einander anklagen und verteidigen“ (Röm 2,15). Paulus bezeichnet also das Gewissen als das Erkenntnisorgan für das im mosaischen Gesetz (vgl. Alttestamentl. Ethik) enthaltene natürl. sittl. Gesetz. Er ist freil. überzeugt, daß das Gewissen seine volle Bedeutung erst im Leben des Christen gewinnt, der durch den Glauben erleuchtet ist und unter dem Einfluß des Hl. Geistes steht (vgl. Röm 9,1); aus dem Gewissen handeln ist für den Christen dasselbe wie aus dem Glauben handeln (vgl. Röm 14,23). Auch Petrus kennt den Begriff des (guten) Gewissens (1 Petr 3,16.21).

Nachdem schon andere christl. Schriften (Didache, Barnabasbrief, Ingatius von Ant., Clemens von Al., Origenes) vom Gewissen gesprochen haben, gibt Augustinus in seinen Confessiones eine eindrucksvolle Schilderung des Gewissensphänomens und kommt auch sonst des öfteren auf das Gewissen zu reden (vgl. De serm. Dni in monte II 9,32; In Ps 57 en. 1; In Ps 145 en. 5; Ep. 157,15; PL 34,1283; 36,673 f; 37,1887 f; 33,681).

Das kirchl. Lehramt würdigt die Bedeutung des Gewissens (vgl. Pius XII., UG 1746). Das 2. Vat. Konz. erklärt: „Im Gewissen erkennt man in wunderbarer Weise jenes Gesetz, das in der Liebe Gottes und des Nächsten seine Erfüllung hat“ (GS 16); das Konzil tritt für das Recht des Menschen ein, nach seinem Gewissen zu leben (GS 26 87; DH 2).

2. Die Entstehung des Gewissensphänomens wird verschieden gedeutet (wobei es sehr darauf ankommt, was man unter Gewissen versteht).

a) Manche wollen es ganz auf den Einfluß der Gesellschaft zurückführen.

Sigmund Freud etwa verwendet auf diesem Gebiet die drei Begriffe Es, Über-Ich (Superego) und Ich. Das unbewußt-triebhafte Es wird in seinen Triebäußerungen durch das Über-Ich als Hemmungsautomatik kontrolliert. Diese ist eine Introjektion der elterl. Autorität in das Unbewußte, durch die dem Kind bes. in den ersten Lebensjahren die gesellschaftl. approbierten Verhaltensweisen aufgenötigt werden. Das im Unterbewußtsein fortwirkende Über-Ich identifiziert Freud mit dem Gewissen Das Ich, die individuelle Persönlichkeit mit ihren vermittels der Erfahrung gewonnenen bewußten Wertsetzungen, kann sich nur in bewußter Auseinandersetzung des Menschen mit seiner gesellschaftl. Umwelt und in Überwindung des Bestimmtwerdens durch das Über-Ich (in Überwindung des so verstandenen Gewissens) bilden. – Daß es Menschen gibt, deren Gewissen in dieser Weise fremdgeprägt ist, läßt sich nicht leugnen. Ihr Gewissen hat jedoch nicht den wünschenswerten Stand und darf nicht mit dem Gewissen schlechthin gleichgesetzt werden. Reif ist das Gewissen, wenn der Mensch zu eigenen begründeten Überzeugungen gekommen ist und ihnen gemäß entscheidet; dieses reife Gewissen ist nicht dem Über-Ich (in dem Eltern und Gesellschaft wirken), sondern dem Ich gleichzusetzen.

Nach dem dialektischen Materialismus spiegelt sich im Gewissen nur der Gesellschaftszustand, der sich wieder aus den wechselnden materiellen Produktionsverhältnissen erklärt. Da die Materie, die einzige Wirklichkeit, sich ändert, gilt keine sittl. Wahrheit absolut.

Entwicklungsethiker, die unter dem Einfluß des Darwinismus stehen, wollen schon im Tierreich Anfänge des Gewissens erkennen, die sich mit der fortschreitenden Vergesellschaftung beim Menschen allmähl. verstärken. Maßgebend sei für das Werden des Gewissens der Einfluß der Gesellschaft, der Zwang, der vom eingebürgerten Tun ausgehe.

b) Gegen die Zurückführung des Gewissens-phänomens nur auf den Einfluß der Gesellschaft ist manches einzuwenden.

Immer wieder kommt es vor, daß jemand aus Gewissensgründen anders handelt als seine Umgebung. Offenkundig ist am Zustandekommen des Gewissensphänomens noch etwas anderes beteiligt als der gesellschaftl. Einfluß, näml. die geistige Erkenntnisfähigkeit jedes Menschen, die es ihm mögl. macht, zu selbständigen sittl. Einsichten vorzustoßen, die mit den Anschauungen seiner Umgebung nicht übereinstimmen müssen. Der geistig reifende Mensch gibt sich auch nicht damit zufrieden, zu einem Verhalten gedrängt zu werden, dessen Richtigkeit er nicht einsieht. Sobald man sich aber bemüht, ihm die Richtigkeit einsichtig zu machen, rechnet man mit seiner Fähigkeit, zu eigener Erkenntnis des sittl. Richtigen zu gelangen.

Das Gewissen ist daher durch die dem Menschen angeborene geistige Befähigung zu erklären. Durch sie läßt sich die allg. Verbreitung des Gewissensphänomens in der ganzen Menschheit am besten verstehen. In diesem Sinn einer vom Schöpfer gegebenen Befähigung kann das Gewissen als Stimme Gottes bezeichnet werden. „Gott spricht im Gewissen der Guten und der Bösen“ (Augustinus, Sermo 12,4; vgl. De serm. Dni in monte II 9,32; PL 38,102; 34,1283; Pius XII., UG 1746; GS 16). Man darf den Bildcharakter dieser Aussage nicht übersehen. Im älteren Protestantismus spielte die Auffassung eine wichtige Rolle, in jeder Gewissensregung spreche Gott unmittelbar zum Menschen, vielleicht noch verbunden mit der Meinung, erst Luther habe das Recht des Gewissens entdeckt; die Unrichtigkeit dieser Meinung wird auch von prot. Seite aufgezeigt. Luther selbst beruft sich wohl zur Rechtfertigung für sein Tun auf sein Gewissen, verschließt sich aber andererseits nicht der Erkenntnis, hinter den Einflüsterungen des Gewissens könnten auch der Satan oder die bösen Geister stehen. Wenn im Gewissen Gott unmittelbar zum Menschen spräche, wäre das Phänomen des Gewissensirrtums schwer zu verstehen. – In eigenartiger Weise deutet das Gewissen als Stimme Gottes C.Gewissen Jung: Er unterscheidet das Gewissen vom Sittenkodex. Dieser sei der vom Bewußtsein erworbene Bestand an traditionellem Brauchtum. Das echte Gewissen dagegen trete als psychische Reaktion bei einer Kollision des Bewußtseins mit den numinosen Archetypen, den vererbten instinktiven Verhaltensweisen, auf, die dem allg. Unbewußten angehören. Gegenüber dieser Deutung mahnen die anscheinend pantheistischen Züge des allg. Unbewußten zur Vorsicht.

3. Im Gewissensvorgang geht es nicht bloß um ein intellektuelles Erkennen einer allg. sittl. Wahrheit oder einer daraus gezogenen Folgerung auf das Konkrete hin, sondern darum, daß der Mensch von einer sittl. Forderung konkret getroffen wird.

a) Sittl. Wissen ist noch nicht Gewissen Wissen kann kühl und distanziert aufgenommen werden; zum Gewissen gehört das Betroffensein. Es geht nicht nur um logische, sondern um existentielle Einsicht. Gewissen hat den Charakter des Erlebens, und zwar des Werterlebens.

Zum Unterschied von der bloß verstandesmäßigen Erkenntnis wird im Gewissenserlebnis der ganze Mensch betroffen, wobei das Emotionale vorherrscht, ohne daß das Rationale ganz ausgeschaltet sein müßte. Der Mensch wird sosehr betroffen, weil es nicht um außerpersonale Werte geht, sondern um seinen eigenen Wert: Im Gewissen wird der Mensch zu seinem eigenen wertvollen Ich gerufen. Der Ruf kommt nicht aus derselben Schichte wie das empirische Bewußtsein, sondern aus der Tiefe der Person. So können wir es verstehen, daß in der Bibel das, was wir mit Gewissen meinen, häufig Herz genannt wird.

In der Tiefe der Person ist das Gewissen verankert, weil der ganze Mensch daraufhin angelegt ist, seine eigenen Wert zu verwirklichen. Die Scholastik hat diese Anlage als Synteresis (Synderesis; J. Pieper: Urgewissen) bezeichnet, als Fähigkeit, die obersten sittl. Wahrheiten zu erfassen (vgl. Thomas von Aq., S.Th. 1 q.79 a.12). Zu ihrer vollen Würdigung ist darauf zu achten, daß es nicht sosehr um ein intellektuelles Erkennen dieser Wahrheiten wie um das Betroffensein des ganzen Menschen durch sie geht; nicht nur um rationale Reflexion, sondern um ein natürl. Gedrängtsein in der Richtung des sittl. Guten. Die affektive Seite des Gewissens wird von den Scholastikern ausdrückl. betont (vgl. Thomas von Aq., S.Th. 1 q.79 a.3). Man könnte auch von einem Streben der ganzen Menschennatur (appetitus naturae) reden, von der Ausrichtung des Menschen auf seine volle Wertgestalt, von der Natur des Menschen, sofern sie nach Ganzheit und Einheit als ihren Zielen drängt und sich dazu verpflichtet weiß.

b) Im Gewissen spielt auch das Wissen eine Rolle.

Manche ethischen Richtungen haben das Element des Werterlebnisses oder des Betroffensein dahin vereinseitigt, daß sie dem Wissen im Gewissen gar keinen Platz mehr einräumen wollten. So erblickt eine ethische Tradition, die in der englischsprechenden Welt bis auf D. Hume zurückreicht, das Wesentliche des Gewissensphänomens in subjektiven Gefühlen, in deren Bereich man mit Vernunftgründen nichts ausrichte. Nach einer anderen Richtung wieder erfaßt das Gewissen in eigenartiger Schau, die mit dem vernünftigen Urteilen nichts zu tun hat, in den verschiedenen Situationen konkrete Werte (Wertintuitionismus; M. Scheler, E. Husserl, N. Hartmann). Damit berührt sich die Auffassung, es gebe nur sittl. Einzelurteile, keine Erkenntnis allgemeiner sittl. Wahrheiten, die durch sie verständl. gemacht werden könnten (Pflichtintuitionismus); allg. Regeln seien nur aus der Einzelerfahrung gewonnene Abstraktionen und müßten im Einzelfall einem anderslautenden Gewissensurteil immer weichen.

Zuzugeben ist, daß als Gewissensphänomen vorwiegend das Betroffensein vom konkreten sittl. Sollen bezeichnet wird. Die sittl. Forderung wird für den Menschen in konkreter Gestalt drängend; so tritt sie in sein Bewußtsein und verlangt von ihm Erfüllung. Die Scholastik hat nur die Erfassung des konkreten Sollens als Conscientia bezeichnet, während sie die Einsicht in allg. sittl. Wahrheiten der Synterese zugewiesen hat (vgl. Thomas von Aq., Sent. 2 d.24 q.2 a.4; J. Pieper: Situationsgewissen). Wenn Thomas von Aq. meint, man komme von einer eingesehenen sittl. Wahrheit zum Gewissen wie durch eine Schlußfolgerung („per modum conclusionis“, a.a.O. und De ver. q.17 a.2), ist dem entgegenzuhalten, daß es sich noch nicht um Gewissen handelt, wenn die Schlußfolgerung bloß intellektuelle Übung bleibt und der Mensch sich vom Ergebnis nicht betroffen fühlt. Dennoch darf man im Gewissen das Wissen nicht übersehen. Der Mensch gibt sich nicht damit zufrieden, daß er von einem Sollen betroffen wird; er fragt nach dem Warum. Er ist ferner fähig und strebt danach, von der sittl. Einzelerfahrung aus zu allg. sittl. Grundsätzen vorzustoßen und sich durch sie eine umfassendere sittl. Einsicht zu sichern. Die menschl. Vernunft ist imstande, aus den Erfahrungsgegebenheiten oberste sittl. Grundsätze zu gewinnen, die als allg. gültig, weil dem bleibenden Wesen des Menschen entsprechend, erkannt werden; oberste sittl. Grundsätze, mit deren Hilfe dann wieder das konkrete sittl. Sollen einsichtig gemacht werden kann.

Gegenüber dem Pflichtintuitionismus ist daher festzuhalten: Das Urteil darüber, von welcher sittl. Forderung der Mensch konkret betroffen wird, stellt sich durchaus nicht immer in derselben Weise ein. Manchmal bedarf der Mensch zur Gewinnung des sittl. Urteils für den Einzelfall des Rückgriffes auf die allg. Grundsätze. In anderen Fällen drängt sich ihm die Erkenntnis ohne langes Überlegen von selbst auf; zur tieferen Begründung braucht er aber auch die Besinnung auf allg. Grundsätze. Gegenüber jegl. Gefühlsethik (auch gegenüber dem Wertintuitionismus, der stark emotionalen Charakter hat) ist zu bemerken, daß sich der Mensch mit Gefühlen allein nicht zufriedengibt, sondern immer eine vernünftige Begründung des ihm auferlegten Sollens verlangt.

Im Gewissen geht es somit nicht nur um die Tatsache des Betroffenseins, sondern häufig auch um die Frage, wie der Mensch betroffen ist, und immer auch um das Warum. Diese Fragen aber können ohne die Beteiligung der Vernunft nicht geklärt werden.

II. Im Gewissen wird der Mensch von seinem Sollen (letztl. vom Anruf Gottes) betroffen. Daraus ergibt sich, daß er sich nach seinem Gewissen richten soll, aber auch für die Leistungsfähigkeit seines Gewissens etwas tun soll.

1. Im Gewissen tritt in vielerlei Konkretisierungen die wesentl. Lebensaufgabe an den Menschen heran. Dieser ist daher verpflichtet, auf sein Gewissen zu achten und sich danach zu richten. Tut er es nicht, so verfehlt er sich gegen seine wesentl. Lebensaufgabe (letztl. gegen Gott, der ihm diese Aufgabe stellt und ihn durch ihre Erfüllung seiner Bestimmung zuführen will). Gehorsam gegenüber dem Gewissen heißt, daß man ihm Gehör schenkt, wenn es sich rührt, und daß man dann seine Forderung befolgt.

a) Wenn es des Menschen wesentl. Lebensaufgabe ist, bewußt und frei entscheidend das ihm auferlegte Sollen zu erfüllen, ist er zu allererst verpflichtet, diesem Sollen Zutritt in sein bewußtes Leben zu gewähren, d.h. die Gewissensregung zuzulassen. Er fängt an, sich zu verfehlen, wenn er aus irgendwelchen Gründen die Gewissensregung erst gar nicht aufkommen läßt, sondern sie unterdrückt.

Diese Pflicht besteht nicht nur gegenüber der einzelnen Gewissensregung. Darüber hinaus ist der Mensch verpflichtet, sich zum sittl. Werterfassen möglichst fähig zu machen und zu erhalten. Damit ist auch schon eine Hauptaufgabe für jene angedeutet, denen andere zur Gewissensbildung anvertraut sind.

b) Gehorsam gegenüber dem Gewissen heißt ferner, daß man seine Forderung befolgt. An das Gewissensurteil hat sich der Mensch als an die nächste Richtschnur (regula proxima, subiectiva, interna) seines Handelns zu halten. Sein sittl. Leben wird ja durch sein bewußtes Wollen geformt; in diesen Bereich aber tritt sein Sollen existentiell durch sein Gewissen „Hier entscheidet er sich für das Gute oder das Böse. Hier wählt er zw. dem Weg des Sieges und der Niederlage“ (Pius XII., UG 1746; vgl. GS 14).

Der Gehorsam ist natürl. dem Gewissen zu leisten, das vor einer Entscheidung spricht und zu erkennen gibt, daß ein Verhalten gut und zu erwählen oder böse und zu meiden ist (consc. antecedens). Im Hinblick auf diesen vorhergehenden Gewissensausspruch fragt Augustinus: „Mißachten nicht alle, die Böses tun, ihr Gewissen?“ (Sermo 330,3, PL 38,1457). Ob der Mensch durch sein Verhalten, für das er sich frei entscheidet, gut oder schlecht wird, das hängt unmittelbar vom Verhältnis seines Verhaltens nicht zu seinem tatsächl. Sollen, sondern zur Vergegenwärtingung dieses Sollens in seinem Gewissen ab.

Oft leuchtet das Gewissensurteil erst nach einem Tun auf (Consc. consequens). Dieses Betroffensein (Ruhe oder Unruhe; Augustinus: „consc. scelerum“, Conf. II 5,11; „consc. bona“, Ep. 23,3; De gestis Pel. 6,16; PL 32,679; 33,95; 44,329) gibt auf jeden Fall einen Hinweis für die Zukunft; natürl. bestätigt und bestärkt es auch einen etwa vorausgehenden gleichartigen Gewissensspruch.

Dem vorausgehenden Gewissensspruch muß man immer folgen; man darf nie dagegen handeln. „Wohl dem, der sich nicht in dem, was er für recht hält, verurteilen muß ... Alles aber, was nicht aus Überzeugung geschieht, ist Sünde“ (Röm 14,22 f).

Aus dieser Pflicht ergibt sich auch das allg. Menschenrecht der Gewissensfreiheit, d.h. das Recht, seinem Gewissen zu folgen und nicht zu einem Verstoß dagegen genötigt zu werden. „Nun aber werden die Gebote des göttl. Gesetzes vom Menschen durch die Vermittlung seines Gewissens erkannt und anerkannt; ihm muß er in seinem gesamten Tun in Treue folgen, damit er zu Gott, seinem Ziel, gelange. Er darf also nicht gezwungen werden, gegen sein Gewissen zu handeln. Er darf aber auch nicht daran gehindert werden, gemäß seinem Gewissen zu handeln, bes. im Bereiche der Religion“ (DH 3; vgl. GS 26; Pius XII., UG 51).

Die Pflicht, dem Gewissen zu folgen, ist für das richtige Gewissen leicht einzusehen. Es zeigt dem Menschen ja das ihm von Gott auferlegte Sollen und bindet ihn daher ebenso wie dieses Sollen. „Der Ausspruch des Gewissens ist nichts anderes als das Hingelangen des göttl. Gebotes zu dem, der das Gewissen hat“ (Thomas von Aq., De ver. q.17 a.4 ad 2), bindet daher „kraft göttl. Gebotes“ (ebd. a.3; vgl. Bonaventura, Sent. 2 d.39 a.1 q.1 ad 3; Pius XII., UG 1748).

Aber auch gegenüber dem irrigen Gewissen gibt es eine Gehorsamspflicht. Man darf, ja man muß dem Gewissen auch dann folgen, wenn es unüberwindl. irrt. Der unüberwindl. Irrende weiß ja nicht, daß er irrt. Für ihn bedeutet Gehorsam gegenüber dem Gewissen, das ihm von Gott als Anlage zum Erfassen seiner sittl. Aufgabe gegeben ist, den Gehorsam gegenüber dem unüberwindl. irrenden Gewissen („Nicht selten jedoch geschieht es, daß das Gewissen aus unüberwindl. Unkenntnis irrt, ohne daß es dadurch seine Würde verliert“, GS 16; „Jeder Wille, der von der Vernunft, sei sie richtig, sei sie irrig, abweicht, ist immer schlecht“, Thomas von Aq., S.Th. 1,2 q.19 a.5). Genauer ausgedrückt heiß dies: Wer nach seinem Gewissen handelt, ist auch dann in seinem Wollen nicht schlecht, wenn er objektiv das sittl. Gesetz übertritt (er begeht keine formale, persönl., subjektive Sünde; eine nachträgl. Aufklärung macht ihn nicht zum Sünder); wer gegen sein Gewissen handelt, ist in seinem Wollen auch dann schlecht, wenn er objektiv das sittl. Gesetz nicht übertritt (er begeht eine formale Sünde; eine nachträgl. Aufklärung ändert nichts daran, daß er vorher zum Sünder wurde).

So liegt auf dem Menschen die Pflicht, selbst ehrl. nach dem Gewissen zu leben. Beim anderen muß er mit der Möglichkeit eines unüberwindl. Gewissensirrtums rechnen und vor seiner ehrl. Überzeugung Achtung haben, auch wenn er sie als unrichtig erkennt (Pius XII. erklärt, das Gewissen sei ein Heiligtum, vor dem selbst Vater und Mutter haltmachen müssen; UG 1746). Ungut ist die Nötigung eines Menschen zu einem Tun, gegen das sich sein Gewissen sträubt (vgl. DH 3).

Wenn einem Irrenden aufdämmert, seine sittl. Anschauung könnte nicht ganz richtig sein, eröffnet sich ihm die Möglichkeit der Klärung; sein Gewissensirrtum wird überwindl. Für sittl. Fehlhandlungen aus solchem Gewissensirrtum ist der Mensch verantwortl., soweit er an seiner mangelhaften Gewissensverfassung Schuld trägt. Das 2. Vat. Konz. spricht dem unüberwindl. irrenden Gewissen seine Würde zu, nicht aber dem überwindl. irrenden, „wenn der Mensch sich zuwenig darum müht, nach dem Wahren und Guten zu suchen, und das Gewissen durch die Gewöhnung an die Sünde allmähl. fast blind wird“ (GS 16).

2. Die Bedeutung, die das Gewissen für das sittl. Leben des Menschen hat, legt diesem die Pflicht auf, für die Leistungsfähigkeit seines Gewissens zu sorgen. Dem Menschen ist im „Urgewissen“ die Anlage gegeben, sein Sollen existentiell zu erfassen. Diese Anlage muß entwickelt werden. Zur Gewissensbildung tragen verschiedene Faktoren bei, unter ihnen die Erziehung, die viel helfen, aber auch schwer schaden kann.

Ziel der Gewissensbildung muß das richtig funktionierende Gewissen sein, d.h. das Gewissen, das für sittl. Werte empfängl. ist und die sittl. Werte richtig sieht.

a) Das Sollen, das dem Menschen aufgegeben ist, zieht und drängt ihn zu seinem vollen Wert. Das Werden seiner sittl. Persönlichkeit hängt sehr davon ab, wie stark in ihm dieses Ziehen und Drängen wird oder wie empfängl. er für die sittl. Werte wird. Empfängl. wird er zunächst dadurch, daß er sittl. Werte an anderen erlebt; dazu kommt mehr und mehr das Erleben durch eigene Wertverwirklichung. Wenn ein Grundbestand an solchen Erlebnissen da ist, kann auch die Unterweisung zu neuen Einsichten führen.

Wer für sittl. Werte empfängl. ist, dem kann ein für ihn drängend werdendes Sollen nicht leicht entgehen. Sein Gewissen ist wachsam oder zart (consc. vigilans, tenera). Häufig sind Menschen aber nicht in dieser wünschenswerten Verfassung: Ihr Gewissen ist unter- oder überempfindl.

Der in sittl. Fragen Unterempfindliche kümmert sich wenig um sittl. Werte. Er vernachlässigt Dinge, die zum Sollen des Menschen gehören, und bringt in seinem Leben Dinge unter, die diesem Sollen widersprechen. Ein solches überweites oder laxes Gewissen ist Kennzeichen einer oberflächl. Lebensauffassung, wie sie Jesus etwa für die Tage Noes und für die Zeit vor der Ankunft des Menschensohnes schildert (Mt 24,37–39). – Diese Unter- oder gar Unempfindlichkeit kann auf häufiges Unterdrücken der Gewissensregung oder häufiges Handeln dagegen zurückzuführen sein (Paulus spricht von Menschen, „die die Wahrheit in Ungerechtigkeit niederhalten“, Röm 1,18; von Menschen, die in ihrer Zwiespältigkeit „in ihrem eigenen Gewissen gebrandmarkt sind“, 1 Tim 4,2); das Gewissen wird dadurch abgestumpft (praktische „Gewissenslosigkeit“).

Es kann auch sein, daß der Mensch in sittl. Fragen überempfindl. wird, sodaß er Dinge, die für sein wesentl. Sollen zweitrangige Bedeutung haben, in seinem Bewußtsein eine Wichtigkeit gewinnen läßt, die ihnen nicht zukommt, und sich in Überstrenge an ihnen verbraucht, wobei wichtigere Dinge vielleicht Schaden leiden. Ein Sonderfall dieses engen Gewissens (consc. angusta, stricta) ist das srupulöse Gewissen, das durch ein krankhaftes, nie zu befriedigendes Sicherheitsverlangen gekennzeichnet ist; der Mensch fragt immer wieder, ob Handlungen (etwa abgelegte Beichten) hinreichend waren; er erforscht sein Gewissen nicht nur über das, was war, sondern auch über das, was hätte sein können, und berichtet darüber bis ins Kleinste in der Beichte; er bleibt in selbstquälerischer Hartnäckigkeit beim eigenen Urteil und ist eher geneigt, von einem Beichtvater zum anderen zu wandern, als sich durch Unterordnung unter einen einzigen beruhigen zu lassen. Diese Verfassung eines Menschen wird damit erklärt, daß es ihm nicht gelungen ist, zur Reife der Persönlichkeit zu gelangen, aus der heraus er imstande wäre, zu selbständigen sittl. Urteilen und Entscheidungen zu kommen und es zu ertragen, daß diese mit einer gewissen Unsicherheit belastet bleiben. Er ist vielmehr in der Fremdbestimmung steckengeblieben, sieht sich Gott als einem Über-Ich gegenüber, das er zufriedenstellen möchte, ohne sich dazu imstande zu sehen. Zur gründl. Behebung dieser Not wäre eine Nachreifung der Persönlichkeit notwendig. Vor allem ist der Skrupulant zu ermutigen, Gott nicht mit fehlerlosen Leistungen abfertigen zu wollen, sondern sich selbst mit allen nicht behebbaren Mängeln Gott ganz zu schenken.

b) Die Gewissensbildung muß nicht nur auf Wertempfänglichkeit, sondern auch auf die Richtigkeit der Werterkenntnis hinzielen. Nur durch ein richtig sprechendes Gewissen kann der Mensch zur Erfüllung seines Lebens gemäß seinem tatsächl. Sollen gelangen.

Wissen ist zwar noch nicht Gewissen, hilft aber zum Gewissen Unter Voraussetzung gewisser Werterfahrungen kann die Wissenserweiterung zu neuen Werteinsichten führen. Die gewissensbildende Tätigkeit der Kirche besteht zu einem Großteil in der Vermittlung von Wissen, in der Information.

Wenn die Gewissens-erkenntnis dem wirkl. Sollen des Menschen entspricht, nennen wir sein Gewissen richtig.

Es ist jedoch möglich, daß das Gewissen irrt, d. h. daß ein Mensch, dessen Gewissen wertempfängl. ist, eine sittl. Forderung nicht so sieht, wie sie wirkl. ist. In der Gewissenserkenntnis betätigt sich ja die Vernunft des Menschen, die, wie allg., so auch in der sittl. Erkenntnis nicht gegen Irrtum gefeit ist. Wenn der Irrende gänzl. schuldlos in seinen Irrtum geraten ist und keine Ahnung davon hat, daß er irrt, besitzt er von sich aus nicht die Möglichkeit, von seinem Irrtum frei zu werden; er irrt unüberwindl. Wenn ihm aber aufdämmert, seine sittl. Überzeugung könnte nicht ganz richtig sein, erhält er damit auch die Möglichkeit, seinen Irrtum zu überwinden.

Der Mensch ist verpflichtet, seinem Gewissen zu folgen, ob es nun richtig spricht oder unüberwindl. irrt. Wenn er es tut, ist er sittl. ohne Schuld. Damit soll nicht gesagt werden, daß es alles eins ist, welcher Überzeugung jemand folgt, wenn es nur eine ehrl. Überzeugung ist, oder daß man jeden seiner Überzeugung überlassen soll, welchen Inhalt immer sie hat. Darin, daß er, wenn auch ohne eigene Schuld, einen falschen Weg geht, liegt doch ein Unglück. Das sittl. Gesetz ist ja nicht Willkürgesetz, sondern Ausdruck dessen, was der Mensch einhalten soll, um seine Bestimmung zu erreichen. Das Bestreben des Menschen muß es daher sein, sein Gewissen (und das anderer) an seinen wirkl. Aufgaben zu bilden (vgl. GS 16; DH 1). Die bloß materiale Sünde darf dort, wo sie sich nicht beseitigen läßt, zwar manchmal geduldet, nie aber verharmlost oder gar gutgeheißen werden (vgl. Pius XII., UG 2312 f).

Wenn sich die Gewissenseinsicht ohne Furcht vor Irrtum einstellt, spricht man von sicherem Gewissen Der Idealfall des sicheren und zugleich richtigen Gewissens ist wegen der Schwierigkeit mancher Situationen und der Mangelhaftigkeit der menschl. Erkenntnis aber nicht immer gegeben; im Gegenteil, der Mensch muß häufig um sittl. Einsicht ringen. Welches Verhalten läßt sich rechtfertigen, solange er in einer sittl. Frage, die ihn betrifft, zu keiner sicheren Erkenntnis gelangt ist? Zunächst: Wenn man sich der sittl. Erlaubtheit einer Handlung, für oder gegen die man sich entscheiden soll, nicht sicher ist (im sog. praktischen Zweifel), darf man sich nicht für sie entscheiden, bevor man etwas zur Klärung der Frage unternommen hat. Mit einer Entscheidung dafür würde man sich ja blind der Gefahr aussetzen, etwas sittlich Unrichtiges zu tun. Die Entscheidung dafür ist erst dann zulässig, wenn man nach entsprechender Überlegung Gründe anführen kann, daß sie sittl. vertretbar ist. Falls man sich, ohne Zeit zur Überlegung zu haben, sofort entscheiden muß, fordert die Verpflichtung auf die sittl. Ordnung (die Ordnung der Liebe) das Unterlassen dessen, was vielleicht schlecht ist.

Voll befriedigend wäre die Schwierigkeit gelöst, wenn man (auch mit Hilfe anderer) durch Feststellung der gegebenen Tatsachen und Anwendung der sittl. Grundsätze auf sie ein sicheres Urteil über die sittl. Beschaffenheit des fragl. Verhaltens gewinnen könnte (direkter Weg). Der prakt. Zweifel wird behoben, wenn man Unsicherheiten in den Tatsachen oder im Grundsätzlichen (den sog. spekulativen Zweifel) bereinigen kann.

Nicht immer kommt man auf diese Art ins reine, und doch muß man sich zu einem Entschluß durchringen. In einem solchen Fall kann der indirekte Weg nützen, der sich an Verhaltensregeln hält, wie sie aus der Erfahrung gewonnen wurden und sich in ähnl. Fällen bewährt haben, die sog. Reflexprinzipien. Eine der wichtigsten dieser Regeln heißt: Ein zweifelhaftes Gesetz verpflichtet nicht (Lex dubia non obligat). Die Berechtigung dieses Satzes wird mit der Überlegung begründet, daß man mit der Verpflichtung auf alle unsicheren Gesetze dem Menschen eine untragbare Last auferlegen würde, daß zu Unmöglichem aber niemand verpflichtet sein kann; als unsicher ist ein Gesetz anzusehen, wenn gegen seine Geltung gediegene Gründe sprechen. An diesem Reflexprinzip schieden sich in einer erbitterten Auseinandersetzung im 17. und im 18. Jh. die Geister. Die sog. Moralsysteme wurden ausgebaut.

Aus diesem ersten Reflexprinzip leiten sich andere her: Wenn zw. zweien ein Zweifel über das Eigentum an einer Sache entsteht, darf der tatsächl. Besitzer sie behalten (in dubio melior est conditio possidentis). Die Pflicht, dem anderen etwas als sein Eigentum zurückzugeben, bleibt solange zweifelhaft, bis der andere sein Recht bewiesen hat, denn für gewöhnl. hat der Besitzer seine Sache rechtmäßig. – Im Zweifelsfall richtet man sich nach dem, was gewöhnl. vorkommt (in dubio iudicandum est ex communiter contingentibus). Wenn ich ohne positiven Anhaltspunkt daran zweifle, ob ich etwas richtig gemacht habe, gibt mir die Erfahrung, daß ich es für gewöhnl. richtig mache, das Recht, mich von der Pflicht, etwas nachzuholen, für frei zu halten. – Daraus weitere Folgerungen: Bei Geschehenem nimmt man an, daß es richtig geschehen ist (in dubio standum est pro valore actus). – Für die Schaffung einer gesetzl. Verpflichtung genügt eine nur vermutete Tatsache nicht, vielmehr ist deren Beweis erforderl.; solange er nicht geführt wird, muß die Pflicht als zweifelhaft nicht erfüllt werden (factum non praesumitur, se probari debet). Eine bestehende Verpflichtung wird durch die Vermutung einer Tatsache nicht aufgehoben, weil die bloße Vermutung nicht ausreicht, die Verpflichtung zweifelhaft zu machen.


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