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Sekten in der Kirche?
Es muß Platz sein für unterschiedliche Wege (1996)

Hans Maier

Hinweis/Quelle: Klerusblatt 9/96. bzw. VISION 2000, Nr. 1/97

Für die Kirche gilt das Wort von der „ecclesia semper reformanda“ – von der sich ständig erneuernden Kirche. Der leichtfertige Umgang mit dem Etikett „Sekte“ zur Ausgrenzung mißliebiger Gruppierungen innerhalb der Kirche schadet dem innerkirchlichen Pluralismus und damit der Fähigkeit, sich fortwährend zu reformieren.

Sekten sind aus den Zeitungsüberschriften unserer Tage kaum wegzudenken. Sie beschäftigen die Gerichte ebenso wie die Politik. „So ist das eben, wenn in einer Gesellschaft ein religiöses Vakuum entsteht“, beschwichtigen die einen – „Wehret den Anfängen“, warnen eindringlich die anderen.

Aber nicht nur auf allgemein-gesellschaftlicher Ebene, sondern auch innerkirchlich gibt es eine Diskussion über Sekten. Regelmäßig taucht der Begriff im Umfeld von Gruppierungen und Bewegungen ganz unterschiedlicher Herkunft, Struktur und Zielsetzung auf. Die aktuelle Kontroverse über die charismatische Erneuerungsbewegung in Frankreich zeigt, daß es sich dabei um kein deutsches Sonderproblem handelt.

Aus dem Blickwinkel der Geschichte

Blickt man in die Geschichte des Christentums, so stellt man fest, daß seit der apostolischen Zeit Sekten ein Thema in der Kirche sind. Sectae heißen im Neuen Testament (vgl. 2 Petr 2,1) Irrlehren, die die Einheit der noch jungen Gemeinden gefährden. Sekte ist nach diesem Verständnis eine Gruppe dann, wenn sie deutlich von Lehre und Lebensweise der Gesamtkirche abweicht. Bereits in der Väterzeit, deutlicher dann noch im Mittelalter, zeigt sich, daß es in der Regel die sektiererische Gruppe selbst ist, die den Bruch mit der kirchlichen Gemeinschaft vollzieht. Man weiß sich als die bessere, als die eigentliche Kirche.

Kriterien behutsam wählen

Gegen eine solche ekklesiologische Defiinition des Sektenbegriffs könnte man soziologisch geprägte Entwürfe ins Feld führen; dies ist jedoch nicht unproblematisch. Die Ambivalenz der gängigen Merkmalskataloge (klare Lehre, Erwählungsbewußtsein, überdurchschnittliches Engagement bis hin zum Fanatismus, etc.) wird deutlich, wenn man in ihnen nicht nur heutige Gruppierungen und Bewegungen mißt, sondern sie auf die verschiedenen Erneuerungsbewegungen in der Kirchengeschichte anwendet. Haben sich nicht alle großen Ordensgründer und -gründerinnen durch ein besonderes Bewußtsein ihrer Sendung ausgezeichnet? Sind sie und ihre Mitstreiter dieser Sendung dann nicht oft mit einer Konsequenz gefolgt, die man „von außen“ gut auch als Fanatismus bezeichnen könnte?

Man mag an diesen Beispielen ersehen, wie behutsam Kriterien ausgewählt werden müssen, will man sich nicht selbst von den Wurzeln des Christentums im allgemeinen und der katholischen Kirche im besonderen abschneiden.

Gemeinsames Credo

Welche Kriterien bleiben nun? Zunächst ist da der miteinander geteilte Glaube, das gemeinsame Credo. Über diesen hinaus haben sich einige zentrale Auffassungen über das rechte Leben im privaten wie im öffentlichen Bereich herauskristallisiert, die man zu jenem „Minimum“ rechnen muß, auf dem die kirchliche Gemeinschaft beruht.

Ein drittes Unterscheidungsmerkmal ist der Wille zur kirchlichen Einheit. Wer auf und zu dieser Basis steht (auf der ja auch jede Ökumene beruhen muß!), dem sollte man das Etikett „Sekte“ nicht anheften wollen.

Bereitschaft zu Pluralismus

Auf die konkrete kirchliche Situation übertragen, ergibt sich aus unseren Überlegungen vor allem die Forderung nach der Bereitschaft zu wirklichem Pluralismus. Es muß in der Kirche Platz sein für ganz unterschiedliche Wege, für alte und bewährte, aber auch für neue und unerkannte. Dabei sind die Grenzen oft fließend; manches, was neu erscheinen mag, ist in Wirklichkeit nur Wiedergewinnung von Verlorenem und Vergessenem; anderes scheint bloße Rückkehr zu Überholtem und erschließt vielleicht gerade darin neue Perspektiven.

Diejenigen, die in den verschiedensten Gruppen und Gemeinschaften abseits der ausgetretenen Pfade ihre Vorstellungen von einer lebendigeren Kirche verwirklichen wollen, müssen sich im Gegenzug die kritische Beobachtung ihrer Handlungen und Lebensweisen gefallen lassen. Vereinigungen, die in der vollen kirchlichen Gemeinschaft stehen – und in der Regel auch kanonisch errichtet sind – haben nichts zu verbergen und brauchen einen kritischen Blick nicht zu fürchten; sie werden ihn im Gegenteil als Aufforderung zur Selbstüberprüfung begrüßen können.

Fehlendes Verständnis für christliche Leidenschaft

Überblickt man die Entwicklungen der letzten Jahre, so ist es schon befremdlich, daß der Sekten-Vorwurf, vor allem der des Fanatismus, besonders häufig von sogenannten „linken“ und fortschrittlichen Gruppierungen an neue geistliche Gemeinschaften gerichtet wird. Fehlt es da nicht manchmal am Verständnis für christliche Leidenschaft und Bereitschaft zu vollem Einsatz?

Die konziliare Rede von der „ecclesia semper reformanda“ meint nicht nur die Notwendigkeit des Überdenkens von Strukturen, sondern vor allem das immer neue Aufbrechen und In-Frage-Stellen allzu liebgewonnener Arrangements mit dem Zeitgeist. Sollten am Ende gar jene, die sich im Kirchenvolksbegehren so mutig und umstürzlerisch gegeben haben, eine recht bürgerliche Vorstellung von „religious correctness“ haben?

Prof. Dr. Hans Maier ist Inhaber des Lehrstuhls für christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie (Guardini-Lehrstuhl) der Universität München. Der ehemalige Bayerische Kultusminister war von 1976 bis 1988 Präsident des ZdK.