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Die Enzyklika Redemptoris Mater
Zur Bedeutung dieses Marianischen Rundschreibens von Papst Johannes Paul II. Theologische und spirituelle Impulse (28. Janaur 1998)

Helga Halbwachs

Hinweis/Quelle: Festvortrag bei der Thomas-Akademie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule der Diözese St. Pölten am 28. Jänner 1998 zur Vorstellung der Diplomarbeit

“Die Mutter des Erlösers hat im Heilsplan eine ganz besondere Stellung; denn ‘als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt, damit er die freikaufe, die unter dem Gesetze stehen, und damit wir die Sohnschaft erlangen. Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unser Herz, den Geist, der ruft: Abba, Vater’ (Gal 4, 4–6).“

Sehr geehrter Herr Diözesanbischof, werte Festgäste, geschätzte Professoren, liebe Studienkollegen; diese Worte hat Papst Johannes Paul II. programmatisch an den Beginn seiner Marienenzyklika Redemptoris Mater vom 25. März 1987 gestellt, und deshalb will auch ich den heutigen Festvortrag mit eben diesen Worten eröffnen.

Zuerst möchte ich den Gesamtaufbau meiner Arbeit in Umrissen vorstellen, um dann die mir am wichtigsten erscheinenden Aspekte und Gedanken der Enzyklika, sowohl im Hinblick auf die heutige Lehre von Maria, als auch hinsichtlich der konkreten marianischen Spiritualität, etwas genauer zu betrachten. Papst Johannes Paul II. geht es in seiner Enzyklika nämlich „nicht nur um die Glaubenslehre, sondern auch um das Glaubensleben und folglich auch um die echte ‘marianische Spiritualität’, wie sie im Licht der Tradition sichtbar wird, und insbesondere um die Spiritualität, zu der uns das Konzil ermutigt“, wie es in RM 48 heißt.

Die Arbeit gliedert sich insgesamt in vier Kapitel, von denen das erste, einleitende ganz allgemein in das theologiegeschichtliche Umfeld, in Anlaß und Zielsetzung der Enzyklika und in deren Aufbau einführen will. Dabei wird auch besonders das Verhältnis von Redemptoris Mater und dem Marienkapitel der Kirchenkonstitution des II. Vatikanums, Lumen Gentium VIII, in Blick genommen.

Kapitel II fragt dann nach den grundlegenden Orientierungen und Ausrichtungen, die das marianische Denken von Redemptoris Mater – und damit zugleich auch von Johannes Paul II. – bestimmen. Dazu gehören erstens die intensive Bezugnahme auf das Wort Gottes, mit Kardinal Ratzinger gesprochen, die „theologische Schriftinterpretation“, bei der „Schrift durch Schrift ausgelegt“ wird; zweitens gehört zu diesen grundlegenden Prinzipien der Enzyklika die Ausrichtung an den von Lumen Gentium VIII vorgegebenen mariologischen Leitlinien, nämlich einer geschichtlich-dynamischen Mariologie mit heilsgeschichtlicher, ekklesiologischer und trinitarischer Orientierung; und drittens gehört hier das so betonte Anliegen der christlichen Ökumene herein, zu der ja das Gebet Jesu in Joh 17, 21 gewissermaßen verpflichtet: „Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, daß du mich gesandt hast“.

Das dritte Kapitel ist sodann den drei inhaltlichen Schwerpunkten der Enzyklika gewidmet: dem Glauben Marias; dem einzigartigen Verhältnis Maria – Kirche; und der „mütterlichen Vermittlung“ der seligen Jungfrau.

Das vierte, abschließende Kapitel beleuchtet noch kurz zusammenfassend die Rezeption der Enzyklika, indem es nach der Verwirklichung der Zielsetzungen von Redemptoris Mater, nach ihrer Aufnahme durch die nicht-katholischen Christen und schließlich nach ihren positiven Impulsen für die gegenwärtige katholische Mariologie fragt.

Von diesem Überblick über meine Arbeit nun zu Redemptoris Mater selbst.

Am 25. März 1987, dem Fest der „Verkündigung des Herrn“, veröffentlichte Papst Johannes Paul II. seine Enzyklika „über die selige Jungfrau Maria im Leben der pilgernden Kirche“, wie der volle Titel lautet. Bereits am Beginn desselben Jahres hatte er dieses Rundschreiben mit folgenden Worten angekündigt: „Wir wollen, Maria, ... das Wissen um deine Gegenwart im Geheimnis Christi und der Kirche bewahren, so wie es uns das Konzil gelehrt hat. Zu diesem Zweck beabsichtigt der derzeitige Nachfolger Petri, der dir sein Dienstamt anvertraut hat, sich an seine Glaubensbrüder mit einer Enzyklika zu wenden, die dir, Jungfrau Maria, dem unschätzbaren Geschenk Gottes an die Menschheit gewidmet ist“[1]. Den Festtag der „Ankündigung des Herrn“, also genau neun Monate vor Weihnachten, wählte der Papst deshalb zur Veröffentlichung des marianischen Rundschreibens, weil die Kirche bei diesem Fest „das geheimnisvolle Ereignis (feiert), auf das die ganze Geschichte wartete und auf das seither die Geschichte mit immer neuem Staunen zustrebt und weiter zustreben wird“[2], nämlich das Ereignis, „daß Maria namens der Menschheit ihr Ja zu Gottes Plan, die Welt durch die Menschwerdung seines Sohnes zu erlösen, gesagt hat“[3].

Den unmittelbaren Anlaß für dieses Rundschreiben bildete die Ausrufung des „Marianischen Jahres“ von Pfingsten 1987 bis zum Fest der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel 1988, in dem Johannes Paul II. „all das erneut und vertieft zu bedenken (aufgab), was das Konzil über die selige Jungfrau und Gottesmutter Maria im Geheimnis Christi und der Kirche gesagt hat und worauf sich die Betrachtungen dieser Enzyklika beziehen“ (RM 48). Dieses „Marianische Jahr“ stellte ja bereits den Auftakt zum großen zweitausendjährigen Jubiläum der Geburt Christi dar, auf das wir jetzt in der näheren Vorbereitung der drei besonderen Jahre zugehen.

Die Marienenzyklika ist aber auch in ihrem besonderen Zusammenhang mit den drei vorausgehenden trinitätstheologischen Lehrschreiben des Papstes zu sehen, nämlich mit seiner Antrittsenzyklika Redemptor hominis (4. März 1979), die dem Sohn Gottes gewidmet war, mit der Enzyklika über Gott Vater, Dives in misericordia (30. November 1980), und mit jener über den Heiligen Geist Dominum et vivificantem (18. Mai 1986). Hinter dieser zeitlichen Reihenfolge der Lehrschreiben steht die theologische Einsicht, daß man richtigerweise von der Mutter Christi, der Tochter des Vaters und Braut des Heiligen Geistes nur dann sprechen kann, wenn man sie vom Geheimnis des Dreifaltigen Gottes her betrachtet und dadurch ihre lebendige Beziehung zu jeder der drei göttlichen Personen sieht. Im Bezug auf die Mariologie heißt das: sie muß in die Christologie, in die Theologie (im strengen Sinn) und in die Pneumatologie eingegliedert bleiben, will sie richtig verstanden werden. Daher ist auch die Mariologie der Enzyklika deutlich trinitarisch fundiert, und zwar genauer noch „trinitarisch-heilsgeschichtlich“. Dadurch zeigt Redemptoris Mater – so der evangelische Bischof U. Wilckens – die Mariologie „als das entscheidende Bindeglied ..., in dem das gesamte Glaubensleben der Kirche mit der Heilswirklichkeit des dreieinigen Gottes vermittelt ist“[4].

Diese trinitätsbezogene Einordnung Marias in die gesamte Heilsgeschichte – sicher in Fortführung von Lumen Gentium VIII, aber noch deutlicher als dort – kennzeichnet die Mariologie von Redemptoris Mater also in besonderer Weise. Die Jungfrau aus Nazaret ist – mit den Worten der Enzyklika gesprochen – jene Frau, „die der Vater als Mutter seines Sohnes in der Menschwerdung ‘erwählt’ hat und die zusammen mit dem Vater auch der Sohn erwählt hat, indem er sie von Ewigkeit her dem Geist der Heiligkeit anvertraute“ (RM 8).

Ich möchte nun kurz den Aufbau der Enzyklika vorstellen:

Redemptoris Mater gliedert sich, abgesehen von einer kurzen Einleitung mit sechs Nummern und einem knappen Schlußteil von zwei Nummern, der den Hymnus „Alma Redemptoris Mater“ betrachtet, in drei Kapitel zu insgesamt 44 Nummern und ist somit länger als jede Marienenzyklika zuvor.

In den sechs Nummern der Einleitung legt Papst Johannes Paul II. kurz Sinn und Ziel dieser Enzyklika dar, im wesentlichen: „die Bedeutung Marias im Geheimnis Christi und der Kirche und ... ihre aktive und beispielhafte Gegenwart im Leben der Kirche“ (RM 1) zu erwägen, wobei das Hauptaugenmerk auf den „Pilgerweg des Glaubens“, den die Jungfrau in Treue „voraus- und vorangegangen“ ist (RM 5, 26; LG 58) und immer noch „vorangeht“ (RM 6), gerichtet sein wird. Diesem Anliegen ist dann auch vor allem der erste Teil der Enzyklika gewidmet, in der deutschen Übersetzung überschrieben mit „Maria im Geheimnis Christi“.

Der zweite Teil befaßt sich mit der „Gottesmutter inmitten der pilgernden Kirche“. Das Da-Sein Marias in und für die Kirche, den mystischen Leib ihres göttlichen Sohnes, wird hier als Konsequenz ihrer leiblichen Mutterschaft gesehen. Denn indem Maria untrennbar zum Geheimnis Christi gehört, „gehört sie auch zum Geheimnis der Kirche von Anfang an, seit dem Tag von deren Geburt“ (RM 27). Die Jungfrau geht der Kirche mit leuchtendem Beispiel als „Typus“ und „Vorbild“ voran, und zwar nicht nur zeitlich-geschichtlich, sondern ganzheitlich, ontologisch. Der Papst wendet sich hier im zweiten Teil auch besonders dem Anliegen der Ökumene zu und würdigt ausdrücklich die Marienverehrung der Ostkirche, die der Gottesmutter „mit einer Fülle von Festen und Hymnen einen bevorzugten Platz“ (RM 31) einräumt. Schließlich geht er in Form eines kurzen Kommentars zum Lobpreis Marias in Lk 1, 46–55 auf das „Magnifikat der Kirche“ näher ein.

Der dritte und letzte Teil ist schließlich der „mütterlichen Vermittlung“ gewidmet, die auch schon im ersten Teil kurz angesprochen wurde (v.a. RM 21f.). In Anlehnung an das II. Vatikanum, aber dessen Ansätze vertiefend, hebt Johannes Paul II. hier die Besonderheit und Einzigartigkeit der Vermittlung Marias hervor, die in ihrer göttlichen Mutterschaft gründet. Die Mutterschaft Marias weitet sich nämlich gemäß dem Willen ihres Sohnes auf die ganze Menschheit aus, sodaß Maria „den Menschen ‘Mutter in der Ordnung der Gnade’“ (RM 39) werden konnte. Diese Mutterschaft in der Kirche, folgert der Papst, dauert nun „als Mittlerschaft der Fürbitte“ (RM 40) unaufhörlich fort – auch bzw. gerade nach ihrer Aufnahme in die himmlische Herrlichkeit, wo sich die geistige Mutterschaft erst recht entfalten und wirksam werden kann. Die letzten beiden Nummern dieses Kapitels erläutern schließlich den „Sinn des Marianischen Jahres“.

Dieser kurze Überblick über den Aufbau von Redemptoris Mater läßt uns im wesentlichen auch die Struktur der Enzyklika erkennen: sie lenkt die Aufmerksamkeit von der Person Mariens über ihre Stellung innerhalb der Kirche schließlich zu ihrer Aufgabe in dieser.

Nach diesem allgemeinen Überblick über Redemptoris Mater werde ich nun einen inhaltlichen Schwerpunkt der Enzyklika herausgreifen und etwas genauer darlegen, nämlich die Bedeutung des „Glaubens Marias“.

“Selig ist die, die geglaubt hat, daß sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ!“ (Lk 1, 45). Dieser preisende Zuruf Elisabets an ihre junge Verwandte Maria, die sie besuchen kommt, gilt Redemptoris Mater gleichsam als Leitmotiv und „wird zum Schlüsselvers für die Mariologie“ der Enzyklika, denn „von diesem Bibelvers her erschließen sich nach Überzeugung des Papstes Wesen und Weg Marias“[5]. Daher bezeichnet Johannes Paul II. die Seligpreisung Marias in Lk 1, 45 auch als „einen Schlüssel ..., der uns die innerste Wirklichkeit Marias erschließt“ (RM 19). In diesen Worten Elisabets offenbart sich nämlich am deutlichsten „die Wahrheit über Maria, die im Geheimnis Christi gerade darum wirklich gegenwärtig geworden ist, weil sie ‘geglaubt hat’“ (RM 12), und zwar „jeden Tag“ aufs Neue geglaubt hat „inmitten der Prüfungen und Widerwärtigkeiten in der Zeit der Kindheit Jesu und dann während der Jahre seines verborgenen Lebens in Nazaret“ (RM 17). Denn obwohl Maria wußte, daß sie ihren göttlichen Sohn „empfangen und geboren hat, ‘ohne einen Mann zu erkennen’, durch den Heiligen Geist, durch die Kraft des Höchsten, die sie überschattet hat (vgl. Lk 1, 35)“ (RM 17), kann sie als Mutter ihn nicht wie Gott, der Vater, kennen (vgl. Mt 11, 27), sondern ist „mit der Wahrheit ihres Sohnes nur im Glauben und durch den Glauben in Berührung“ (RM 17). Das bedeutet, daß auch der Mutter des Erlösers die göttliche Natur Christi – wie allen Menschen – nur im Glauben zugänglich war. Die Enzyklika betont dies ganz ausdrücklich (vgl. RM 17–19), wahrscheinlich um der vor allem in der „Privilegienmariologie“ gängigen Vorstellung entgegenzuwirken, Maria hätte bereits in ihrem irdischen Leben die „visio beatifica“ besessen. Dagegen stellt Redemptoris Mater den Glauben Mariens als die alles bestimmende Haltung der Jungfrau ins Zentrum. H.U. v. Balthasar charakterisiert ihn so: „Glaube, wie Maria ihn vorlebt, ist totale vertrauende Übergabe von Geist und Leib an Gott, ist Armut an eigenem Verstehen, ist schlichter Gehorsam, ist von sich weg schauende und lebende Demut, aber auch übernommene Verantwortung für die ihr von Gott zugewiesene Aufgabe“[6].

Diesen Glauben werde ich nun – entsprechend den Ausführungen von Redemptoris Mater – unter vier Gesichtspunkten betrachten, und zwar zuerst hinsichtlich seiner absoluten Neuheit und Unvermitteltheit, dann im Hinblick auf seine Universalität, drittens in seinem Verhältnis zum Glauben Abrahams und viertens schließlich in seinem Kreuzcharakter.

Der Glaube Mariens wird in der Enzyklika vor allem als absolut unableitbarer Neuanfang in der Heilsgeschichte deutlich. Dies können wir z. B. an der schlichten Feststellung in RM 26 erkennen: „Als erste hat sie (Maria) geglaubt.“ Dieser echte Neubeginn mit Maria zeigt sich zuallererst daran, daß die Jungfrau aus Nazaret ihren Glauben nach Redemptoris Mater nicht durch menschliche Vermittlung empfing – nicht von der Glaubenstradition ihres Volkes Israel her, und schon gar nicht durch das apostolische Zeugnis der Kirche, die sie durch ihren Glauben, genauer: durch ihre gläubige Bereitschaft dem Willen Gottes zur Menschwerdung seines Sohnes in ihrem Leib gegenüber ja erst mitbegründete. Maria kam daher in einer ganz einzigartigen Weise zum Glauben an den dreifaltigen Gott, nämlich durch das lebendige Wort des ewigen Vaters selbst, das ihr durch den göttlichen Boten Gabriel angekündigt worden war und das sie dann im Heiligen Geist empfing (vgl. RM 9, 13). Marias Glaube wurde also allein vom dreifaltigen Gott bzw. durch den Heiligen Geist „vermittelt“.

Deshalb ist nicht nur „die Weise, in der Maria zum Glauben kam“, sondern auch jene, durch die sie „in ihm gehalten wurde und fortschreiten konnte, ... einmalig und läßt sich wohl nur im Hinblick auf diejenige verstehen, die von Ewigkeit her zur Mutter des Sohnes erwählt war“[7]. Ihr, der treuen Braut des Heiligen Geistes (vgl. RM 26), wurde nämlich nach Redemptoris Mater die Selbstoffenbarung des lebendigen Gottes durch ihre einzigartige Beziehung zum dreifaltigen Gott „in einer Weise, ‘die alle Erkenntnis übersteigt’ (Eph 3,19), ... immer offenkundiger“ (RM 20). Die Mutter Jesu lebte ja all die Jahre des verborgenen Lebens Christi in der Vertrautheit des täglichen Umganges mit dem Sohn Gottes und schritt im Glauben voran, indem sie alles, was ihn betraf, in ihrem Herzen erwog und bewahrte (vgl. Lk 2, 19.51; RM 20, 26, 43).

Dieser unableitbare Neubeginn in der bisherigen, immer auch sündigen (Heils-) geschichte drückt sich vor allem in der Freiheit bzw. überhaupt in der Bewahrung der jungfräulichen Gottesmutter vor dem Erbe der Ursünde aus, und zwar vom ersten Augenblick ihrer Empfängnis an. Weil Maria die einzigartige Aufgabe zugedacht war, die Mutter des Erlösers zu werden, hat sich in ihr – mit den Worten der Enzyklika gesprochen – „die gesamte ‘herrliche Gnade’ kundgetan ..., die der ‘Vater ... uns in seinem geliebten Sohn geschenkt hat’“ (RM 8). Gerade indem Maria aus der übrigen Menschheit, vor allem aus deren Sündenverflochtenheit, durch Gottes Gnade herausgehoben wurde, zeigt sich also, daß der Neuansatz des Heils völlig unableitbar ist und daß die Initiative des Heils ganz allein von Gott ausgeht. Diese Initiative findet nun „ihre geschöpfliche Entsprechung und Darstellung in dem Menschen Maria, in ihrem persönlichen Glauben, in ihrem in Freiheit gesprochenen Ja-Wort, in ihrer Möglichkeit als Frau, die Mutter eines Menschen zu werden, der in der Tiefe seiner Person der ewige Sohn des Vaters ist“[8]. Maria steht also nicht mehr in der Tradition der Ursünde, sie lebt aber auch nicht wie die Stammeltern aus der Gnade des Paradieses, einschließlich der Möglichkeit des Fallens, sondern sie trägt bereits die gesamte wunderbare Gnade der Erlösung in sich. Daher wird die Jungfrau in Redemptoris Mater auch als „die erste ‘Zeugin’ der Erlöserliebe des Vaters“ (vgl. RM 46) bezeichnet, denn sie ist wirklich „die erste, die an dieser neuen göttlichen Offenbarung und der darin liegenden neuen ‘Selbstmitteilung’ Gottes teilhat“ (RM 36).

Da es jedoch nur eine Heilsgeschichte gibt, die als solche bereits in ihrem Ur-Anfang ihr siegreiches Ende keimhaft einschließt, stellt dieser absolute Neubeginn in der Heilsgeschichte „die überreiche Erfüllung der Verheißung dar, die Gott den Menschen (bereits) nach der Ursünde gegeben“ (RM 11) und mit der Jungfrau Maria unlösbar verbunden hat (vgl. Gen 3, 15; RM 11). Der Gott allen Erbarmens wollte nämlich, „daß vor der Menschwerdung die vorherbestimmte Mutter ihr empfangendes Ja sagte, damit auf diese Weise so, wie eine Frau zum Tode beigetragen hat, auch eine Frau zum Leben beitrüge“ (LG 56; RM 13). Und „Maria hat dieses Fiat im Glauben gesprochen“, wie Redemptoris Mater öfter betont (v. a. RM 13). Sie nahm in völliger Offenheit den Heilsplan des Dreifaltigen in sich auf und bildete so im Glauben das menschlich vollkommene Gegenstück zum Heilsangebot Gottes, welches für die Erlösung notwendig war.

Verwirklicht wird dieser einzigartige Glaube Mariens nun in ihrer Antwort an den Boten Gottes bei der Verkündigung: „Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast“ (Lk 1, 38; RM 13, 15, 20, 39). Die Enzyklika interpretiert von diesen Worten her den Glauben Mariens als eine vollkommene Entsprechung zur Bereitschaft Christi bei seinem Eintritt in die Welt, die der Hebräerbrief im Anschluß an Psalm 40, 6–8 mit folgenden Worten zum Ausdruck bringt: „... einen Leib hast du mir geschaffen ... Ja, ich komme ..., um deinen Willen, Gott, zu tun“ (Hebr 10, 5–7; RM 13). Nach Redemptoris Mater stellt nämlich auch Maria in ihrem gläubigen „fiat“ ihren Leib, und so wirklich ihr ganzes Leben, uneingeschränkt zur Verfügung. Sie ermöglicht dadurch, „soweit es sie nach dem göttlichen Plan betraf, die Erhörung des Wunsches ihres Sohnes“ (RM 13). In ihrem bedingungslosen Jawort fällt Mariens Bereitschaft im Glauben mit der des Sohnes in eins, und eben deshalb kann dieser ewige Sohn Gottes wirklich, leibhaftig in der Welt ankommen, also „Fleisch werden“ (vgl. Joh 1, 14). Wenn die Enzyklika nun aber im selben Artikel mit dem hl. Augustinus betont, daß Maria ihren Sohn, „noch bevor sie ihn im Leib empfing, im Geist empfangen“ (RM 13) hat, dann will sie damit nicht die eben so herausgestellte Leibhaftigkeit von Marias Glaube wieder herabsetzen, sondern, im Gegenteil, hervorheben, daß die Jungfrau in ihrem „fiat“ von vornherein ihren Leib ganz bewußt mit zur Verfügung gestellt hat.

Weil der Sohn in der Heilsgeschichte zu seiner Menschwerdung einer menschlichen Mutter bedurfte, wurde Marias uneingeschränkter Glaube also, gerade in seiner Funktion als vollkommene Entsprechung zum universalen Ja des Sohnes, Mitbedingung für dessen Inkarnation und somit für unsere Erlösung[9]. Deshalb wird dieser Glaube Mariens zu einer heilshaften Macht, „die in die Geschichte eingreift, genauso wie Eva auf der Unheilsseite“[10]. Ja, in seiner absoluten Vorbehaltlosigkeit bildet er sogar „das Gegengewicht zum Ungehorsam und Unglauben“ (RM 19) der Stammeltern, weshalb die Kirchenväter, vor allem Irenäus, lehrten: „Der Knoten des Ungehorsams der Eva ist gelöst worden durch den Gehorsam Marias; was die Jungfrau Eva durch den Unglauben gebunden hat, das hat die Jungfrau Maria durch den Glauben gelöst“ (RM 19; LG 56). Wenn Maria nun, wie wir soeben oben sahen, bereits am Anfang der Heilsgeschichte angekündigt worden ist als die Frau, deren Nachkomme der Schlange den Kopf zertritt (vgl. Gen 3, 15), ihr „Ur-Glaube“ daher nach H. U. von Balthasar „schon im vorweltlichen Plan Gottes seine notwendige Stelle hat“, und wenn Maria dann „wiederum, als das Sonnenweib, das den Messias gebiert, die Mitte des letzten (Buches der Bibel) bildet (11, 24.52)“ und daher auch am Ende der Geschichte wesentlich gegenwärtig sein wird, dann umgreift der Glaube der Jungfrau wirklich „die ganze Heilsgeschichte“[11]. Die Enzyklika beschreibt diese Wirklichkeit vor allem, indem sie betont, daß Maria mit ihrem allumfassenden Glauben allen Menschen bleibend voran- und vorausgeht (vgl. besonders RM 26–28); ja, daß ihr Glaube sogar „zum Glauben des Gottesvolkes auf seinem Pilgerweg“ (RM 28) wird.

Trotz seiner unwiederholbaren Einzigartigkeit zeigt Marias Glaube aber „alle für den christlichen Glauben charakteristischen Züge: Es ist ein Glaube an den sich offenbarenden Gott; er bezieht sich auf Christus als den Sohn Gottes, der um unseres Heiles willen Mensch geworden ist, der am Kreuz gestorben und von den Toten auferstanden ist; er ist von einer die ganze Person Marias umfassenden Intensität“[12]; vor allem macht er deutlich, daß christlicher Glaube wesentlich die „Berührung mit dem unaussprechlichen Geheimnis Gottes, der Mensch geworden ist“ (RM 17), damit der Mensch an seinem göttlichen Leben teilhaben kann (vgl. RM 8, 51), darstellt, und daß diese Berührung ganz und gar ein unverdientes und unverdienbares Geschenk der zuvorkommenden Liebe des Dreifaltigen ist, ein Geschenk, das eine besondere und einzigartige Beziehung herstellt, und somit „ein persönliches und personales Verhältnis des Menschen zu Gott und Gottes zu den Menschen“[13] begründet.

Wenn dieser vollkommene Glaube Marias nun aber auch einen völlig unableitbaren und einzig durch Gott vermittelten Neuansatz in der Heilsgeschichte bildet und daher keine Fortsetzung des Glaubens des Alten Bundes sein kann, so setzt ihn die Enzyklika doch in Vergleich zu jenem Abrahams, unseres Vaters im Glauben (vgl. Röm 4, 12; RM 14). Indem Redemptoris Mater „in sehr lebendiger Einzeldarstellung unter feinsinniger Ausschöpfung aller biblischen Zeugnisse“ den Glaubensweg Marias nachzeichnet[14], versucht sie nämlich, die „überraschenden Ähnlichkeiten“ (vgl. RM 14) zwischen dem Glauben Abrahams und dem der Mutter Jesu herauszustellen.

Eine wirkliche Analogie besteht vor allem in der völligen Vorbehaltlosigkeit des Glaubens dieser beiden Menschen. Wie der alte, und noch immer kinderlose Abraham „gegen alle Hoffnung voll Hoffnung“ (Röm 4, 18; RM 14, 26) glaubte, daß er Vater werden sollte, sogar „Stammvater einer Menge von Völkern“ (Gen 17, 4), so vertraute auch Maria auf das Wort des Gottesboten, der ihr, der verlobten Jungfrau, die völlig unmöglich erscheinende Botschaft von der Empfängnis und der Geburt eines Kindes, ja weit mehr noch: des Sohnes des Höchsten (vgl. Lk 1, 32) überbrachte. Eine besonders deutliche Parallele in der Hingabebereitschaft des Glaubens Abrahams und Mariens sieht der Papst dort gegeben, wo es darum geht, den Sohn der Verheißung, Isaak bzw. Jesus, zu opfern. Hier mußte sich ihr Glaube, der ja bedeutet, „sich der Wahrheit des Wortes des lebendigen Gottes zu ‘überantworten’, obwohl man darum weiß und demütig anerkennt, ‘wie unergründlich seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege sind’ (Röm 11, 33)“ (RM 14), am deutlichsten bewähren. Und beide, sowohl Abraham als auch Maria, überantworteten sich Gott wirklich voll und ganz und nahmen im „Gehorsam des Glaubens“ (vgl. Röm 16, 26; RM 13) mit offenem Herzen alles an, was Gott, der Herr, verfügte – auch wenn sie diese Pläne der göttlichen Liebe nicht immer verstanden. Von Maria und Josef heißt es übrigens ausdrücklich, als Jesus sie auf den Willen Gottes, seines Vaters, hinwies: „Doch sie verstanden nicht, was er damit sagen wollte“ (Lk 2, 50; RM 17).

Die offensichtlichste Parallele – die jedoch gleichzeitig auch den wesentlichen, qualitativen Unterschied zwischen dem Glauben Abrahams und dem Marias deutlich macht – besteht im Zusammenhang mit dem Bund Gottes mit den Menschen. „In der Heilsordnung der Offenbarung Gottes bildet (nämlich) der Glaube Abrahams den Anfang des Alten Bundes“ (RM 14), während jener der Jungfrau bei der Verkündigung in Nazaret den allumfassenden Neuen Bund eröffnet. Gerade in seiner Hinordnung auf diesen universalen Neuen Bund in Christus Jesus besteht auch die absolute Neuheit von Marias Glaube, der in seiner Universalität bereits voll und ganz dem kommenden, universalen Retter der Welt, dem ewigen Sohn Gottes entspricht. Im Magnifikat, dem geistgewirkten Glaubensbekenntnis Mariens (vgl. RM 36), bezieht sich die Jungfrau aus Nazaret dann selbst auf Abraham, den Vater des Glaubens (vgl. Röm 4, 12; RM 14), und den Bund, den Gott mit ihm schloß. Vor allem in den letzten Worten ihres Lobpreises – „Er (Gott) nimmt sich seines Knechtes Israel an und denkt an sein Erbarmen, das er unsern Vätern verheißen hat, Abraham und seinen Nachkommen auf ewig“ (Lk 1, 54f.) – wird deutlich, daß sich Maria dessen bewußt ist – wie es in der Enzyklika heißt –, „daß sich an ihr die Verheißung erfüllt, die an die Väter und vor allem an ‘Abraham und seine Nachkommen auf ewig’ ergangen ist; daß also auf sie als die Mutter Christi der gesamte Heilsplan hingeordnet ist“ (RM 36). In diesem Magnifikat bezeugt Maria folglich gewissermaßen selbst, daß ihr Glaube die „Vollendung des Glaubens Abrahams, ... die Vollendung des Alten Bundes“ ist[15], aber eben nicht im Sinne einer linearen, vervollkommnenden Fortsetzung, sondern als völlig unableitbarer, ganz von Gott allein geschenkter Neubeginn. Nur deshalb kommt Maria „die von Gott selbst gesetzte Vollgestalt des Glaubens“ zu, und es eignet ihrem Glauben „eine echte Verbindlichkeit und Normativität, die man nicht mit Gleichgültigkeit übergehen kann“[16]. Denn indem Marias Glaube den Neuen, ewigen Bund eröffnet, wird er nicht mehr nur zum Vorbild für alle folgenden Generationen – wie dies beim Glauben Abrahams der Fall ist –, sondern er wird „auf der Grundlage des apostolischen Zeugnisses der Kirche unaufhörlich zum Glauben des Gottesvolkes auf seinem Pilgerweg: zum Glauben der Personen und Gemeinden, der Kreise und Gemeinschaften sowie der verschiedenen Gruppen, die es in der Kirche gibt“ (RM 28), und der persönliche Glaube eines jeden Christen nimmt nun „gewissermaßen teil am Glauben Marias“ (RM 27). Schließlich bedeutete der Glaube für Maria ja „kein privates Glück und keine individuelle Erfüllung“, sondern er „wuchs aus ihr, die diesen Glauben ja in ihrer Eigenschaft als Mutter des Herrn empfing und betätigte, heraus und wurde zu einer universellen heilsgeschichtlichen Bewegungskraft“[17].

Gerade wenn man den Glauben der Gottesmutter im Vergleich mit jenem des Stammvaters im Glauben, Abraham, sieht, wird deutlich: Glaube ist Kreuzesgemeinschaft. „Der Kreuzcharakter des Glaubens, den Abraham in so radikaler Weise hatte erfahren müssen“18 (vgl. Gen 22), zeigt sich auch, ja sogar mehr noch, für die Gottesmutter. Selbst Maria, welche die für einen Menschen größtmögliche Aufgabe in der Heilsgeschichte anvertraut bekam, die Mutter des Erlösers zu sein, mußte den Glauben als „eine besondere Mühe des Herzens“ erfahren, „die mit einer gewissen ‘Glaubensnacht’ verbunden ist“ (RM 17). Wenn es in der Enzyklika von der Gottesmutter auch heißt, daß sie „einen erleuchteten Glauben“ (RM 18) und „ein geistliches Wissen besaß, das menschlichem Denken unzugänglich ist“ (RM 33), wäre es gänzlich falsch, Maria die echte Mühe des Glaubens und „das Moment des Ringens und Wachsens im Glauben“ abzusprechen[19]. Denn gerade in ihrer vorbildlichen Haltung in allen, auch den dunkelsten und schwierigsten Phasen des Glaubens liegt ja „die Krone ihrer wahren Seligkeit nach dem Evangelium: ‘Selig, die du geglaubt hast!’ (Lk 1, 45)“[20].

Die dichteste Bedeutung erlangt diese Seligpreisung Marias nun im Zusammenhang mit dem Kreuz, genauer: unter dem Kreuz ihres geliebten Sohnes. Hier gebietet ja kein Engel des Herrn mehr Einhalt, wie bei Abraham, dessen einziger Sohn im letzten Moment doch vom Opfertod verschont blieb (vgl. Gen 22, 11f.). Daher stellt Johannes Paul II. in der Enzyklika auch fest: „Dies ist vielleicht die tiefste ‘kenosis’ (Entäußerung) des Glaubens in der Geschichte der Menschen: Durch den Glauben nimmt Maria teil am Tod des Sohnes – an seinem Erlösertod“ (RM 18).

Wie ist jedoch Marias gläubige, deshalb aber nicht weniger wirkliche Teilnahme am Erlösertod Jesu Christi zu verstehen? Dazu muß man noch einmal kurz zurückblicken auf die Szene der Verkündigung im Haus zu Nazaret, wo der Engel Gottes Maria bezüglich ihres Kindes verheißt: „Er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden. Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Er wird über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen, und seine Herrschaft wird kein Ende haben“ (Lk 1, 32–33; RM 9, 15, 17f., 20). Nun stirbt ihr göttlicher Sohn aber, anscheinend völlig ohnmächtig, am Kreuz wie ein Verbrecher, „wie ein Ausgestoßener“ (RM 18), und Maria, seine Mutter, wird zu Füßen des Kreuzes, „menschlich gesprochen, Zeuge einer völligen Verneinung dieser Worte“ (RM 18). Mußte sie nicht denken, daß Gott seiner Verheißung untreu geworden ist? Doch trotzdem nimmt sie im vollkommenen, unerschütterlichen, ja, heroischen Glaubensgehorsam (vgl. RM 18) an diesem unergründlichen Geheimnis der Entäußerung Christi teil – ohne daß ihr Glaube dabei wankend geworden oder gar erloschen wäre (vgl. RM 26)! Maria trägt den Glauben an die wunderbare Verheißung Gottes von der bleibenden Herrschaft des Retters durch das Dunkel des Kreuzes hindurch, ohne am Wort des Herrn zu (ver-)zweifeln. In dieser Situation wird ein sehr bedeutsames Charakteristikum von Mariens Glauben ersichtlich: trotz Kreuz und Leid, Prüfungen und menschlicher Unverstehbarkeit, wird ihr Glaube von keinerlei Unsicherheit, Ungewißheit, Zerrissenheit im Inneren oder gar Zweifel am Wort Gottes geplagt, sondern Maria steht unerschütterlich fest zu ihrem vertrauensvollen „fiat“ und lebt treu aus der vollkommenen Hingabe an Gottes unergründlichen Heilswillen[21].

Von diesen Betrachtungen über den Glauben Mariens ausgehend möchte ich noch einige Gedanken zur Marienverehrung anhängen.

Redemptoris Mater betont ja sehr häufig, daß die jungfräuliche Gottesmutter der Kirche insgesamt und auch allen Gläubigen voran- und vorausgeht. Mariens Glaubensleben „von der Verkündigung bis zum Kreuz liegt der eigentlichen ‘Gründung’ der Kirche am Kreuz, an Ostern und Pfingsten (nämlich nicht nur) zeitlich voraus ..., sondern auch geistig: dieses Leben ist das vollkommene Voraus-Bild dessen, was die Kirche zu leben haben wird, dessen Vollkommenheit sie aber bis ans Ende der Weltzeit nie wird einholen können“[22]. Marias Vorausgehen ist also im tiefsten Sinne ontologisch und fundamental zu verstehen: die Mutter Jesu bereitete „in ihrer Person und in ihrem Tun, beides in unauflöslicher Einheit mit Christus, das Entstehen des Weges der Kirche“ vor und bahnte diesen Weg für die Kirche, „indem sie den notwendigen Zugang zu ihm schuf, was nur durch einen eigenen, von ihr allein begangenen Weg geschehen konnte“[23]. Damit hat Maria einen wesentlichen und uneinholbar bleibenden Vorrang vor allen Gläubigen, vor der Kirche; sie gehört als Mutter Jesu „untrennbar zum Geheimnis Christi“, und „zum Geheimnis der Kirche von Anfang an, seit dem Tag von deren Geburt“; ja mehr noch, mit ihrem treuen, vollkommenen Glauben gehört Maria überhaupt „zur Grundlage all dessen, was die Kirche von Anfang an ist und was sie von Generation zu Generation inmitten aller Nationen der Erde unaufhörlich werden muß“ (RM 27). Deshalb übernimmt Papst Johannes Paul II. in diesem Zusammenhang auch den aus der kirchlichen Tradition stammenden und von seinem Vorgänger Paul VI. feierlich proklamierten Titel für Maria: „Mutter der Kirche“ (vgl. RM 47). Man kann vielleicht auch sagen: Maria ist in ihrer Unversehrtheit und Reinheit der von Gott geschenkte, unendlich fruchtbare Wurzelgrund, der Mutter-Boden der Kirche, der in den einzelnen Gläubigen zur Blüte und auch zu seiner Fülle gelangt.

Und eben diese Einzigartigkeit der Stellung Marias im Heilsgeschehen, ihre von Gott bestimmte Notwendigkeit im Geheimnis Christi, dem Geheimnis der Erlösung, begründet auch die Unentbehrlichkeit der Marienverehrung. Daher hat Papst Paul VI. in Marialis cultus festgehalten, daß die Verehrung der seligen Jungfrau „wesentlich zur kirchlichen Frömmigkeit gehört“[24], und nie bloß als etwas Äußerliches, Zusätzliches oder Beliebiges, als eine Form der Frömmigkeit für das einfache Volk oder für bestimmte, „marianische“ Gruppen in der Kirche gelten kann. Je mehr die Kirche nämlich erfährt, „wie sehr gerade der Blick auf Maria zum rechten Verständnis Christi und seines Werkes hilft, ... desto mehr blickt sie verehrend zu Maria auf“[25].

Eine erste wesentliche Form des verehrenden Aufblickes zur Gottesmutter ist der Lobpreis. Er entspringt der tieferen Betrachtung und Erkenntnis des wunderbaren Geheimnisses der Menschwerdung, an dessen Wirklichkeit „man nicht denken (kann), ohne sich auf Maria, die Mutter des menschgewordenen Wortes, zu beziehen“ (RM 5), „Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter. Denn der Mächtige hat Großes an mit getan, und sein Name ist heilig“ (Lk 1, 48b-49), so verheißt es schon das Magnifikat, welches die Jungfrau auf die Großtaten Gottes anstimmt. Die erste Bestätigung dieses prophetischen Verses findet sich bereits im Lukasevangelium, und zwar in der Seligpreisung Marias durch die „unbekannte ‘Frau aus der Menge’“ (vgl. Lk 11, 27; RM 20).

Wahre Marienverehrung ist aber allein mit dem Lobpreis der Gottesmutter noch nicht abgedeckt. Maria wirklich zu verehren heißt nicht nur, sie zu preisen für ihre vorbehaltlose Zustimmung zum Plan Gottes; es ist auch noch zu wenig, ihr für ihren Beitrag zur Erlösung zu danken. Echte Marienverehrung muß immer zur Nachahmung der Gottesmutter führen, und zwar nicht nur rein äußerlich, sondern wesenhaft. Der hl. Ludwig Maria Grignion von Montfort, auf den der Papst in RM 48 verweist, sagt dazu: „Die wahre Marienverehrung ... hilft, die Sünde zu meiden und die Tugenden Marias nachzuahmen [...] Sie bewegt die Seele dazu, nicht sich selbst zu suchen, sondern allein Gott in seiner heiligen Mutter“[26]. Die vornehmlichste Tugend Marias ist, wie bereits gesagt wurde, ihr vorbehaltloser Glaube; so heißt also Maria nachzuahmen zuerst einmal, sich an ihrem absolut christo-zentrischen Glauben zu orientieren.

Maria steht uns aber nicht bloß als moralisches Vorbild vor Augen (vgl. RM 44), sondern wir sind von vornherein immer schon in ihren Glauben, durch den sie ja an unserer Erlösung mitgewirkt hat und ständig mitwirkt (vgl. RM 18), einbezogen. Deshalb bedeutet die Nachahmung der Gottesmutter über das Sich-zum-Vorbild-nehmen ihres Glaubens hinaus weit mehr noch, selbst die Geburt des Gottessohnes im eigenen Herzen zu ermöglichen (vgl. LG 65; RM 28). Und dies geschieht, indem man – wie Maria, also in marianischer Haltung – dem Heiligen Geist in sich Raum gibt und dem ewigen Vater das eigene Leben ganz zur Verfügung stellt, so daß sich sein Heilsplan erfüllen kann: die Menschheit „durch die Teilhabe an seinem eigenen Leben (vgl. 2 Petr 1, 4) in Christus zu retten“ (RM 8).

Der Dreifaltige Gott selbst war es, der sich zuerst der Jungfrau Maria, ihrem freien Dienst und ihrer liebevollen Hilfe als ganz kleines Kind anvertraute, ja richtiggehend auslieferte (vgl. RM 46). Maria steht also „am Wege Gottes in die Welt, am Wege Gottes zu den Menschen“, und deshalb steht sie auch notwendig „am Wege der Menschen zu Gott“[27].


Anmerkungen:

Die Hauptquelle zur Diplomarbeit war die Enzyklika „Redemptoris Mater“ selbst (mit RM abgekürzt).
Sie findet sich auf lateinisch in: Acta Apostolicae Sedis – Commentarium Officiale: Acta Ioannis Pauli PP. II: Litterae Encyclicae De Beata Maria Virgine in vita Ecclesiae peregrinantis. 2. April 1987, pp. 361–433.
Auf deutsch in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhles 75: Enzyklika REDEMPTORIS MATER von Papst Johannes Paul II.: Über die selige Jungfrau Maria im Leben der pilgernden Kirche. 25. März 1987

[1] OR(D), Nr. 2 v. 9. 1. 1987, S. 1

[2] OR(D), Nr. 14 v. 3. 4. 1987, S. 2, Nr. 1

[3] BEINERT, Wolfgang: Maria – Impulse für die Kirche? Überlegungen aus Anlaß der Enzyklika „Redemptoris Mater“ von Papst Johannes Paul II. In: Theologisch-praktische Quartalschrift 136 (1988), S. 107

[4] WILCKENS, Ulrich: Redemptoris Mater. Zur Enzyklika von Papst Johannes Paul II. über die selige Jungfrau Maria im Leben der pilgernden Kirche: Evangelische Zustimmung und Kritik. In: Una Sancta 42 (1987), S. 226

[5] WAGNER, Marion: Maria – Mutter und Mittlerin: Die Marienenzyklika Papst Johannes Pauls II. und der ökumenische Dialog über Maria. In: Trierer Theologische Zeitschrift 101 (1992), S. 176

[6] BALTHASAR, Hans-Urs von, Kommentar. In: Maria – Gottes Ja zum Menschen. Johannes Paul II. Enzyklika „Mutter des Erlösers“. Hinführung von Joseph Kardinal Ratzinger, Kommentar von Hans-Urs von Balthasar. Freiburg im Breisgau: Herder, 1987, S. 135

[7] PETRI, Heinrich: Die Stellung Marias in der Kirche. In: Anton ZIEGENAUS (Hg.): Maria und der Heilige Geist: Beiträge zur pneumatologischen Prägung der Mariologie. Regensburg: Verlag Friedrich Pustet, 1991 (Mariologische Studien, Bd. VIII), S. 41f

[8] MÜLLER, Gerhard Ludwig: Was bedeutet Maria uns Christen? Die Antwort des Konzils: Überlegungen zum Marienkapitel der Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils. / Karl Josef WALLNER (Mitarbeit). Wien: Rosenkranz-Sühnekreuzzug um den Frieden der Welt, 1994, S. 10

[9] vgl. BALTHASAR, Hans-Urs von, Kommentar, S. 137

[10] SCHEFFCZYK, Leo: Maria und die Kirche in der Enzyklika „Redemptoris Mater“. In: Marianum 51 (1989), S. 101

[11] BALTHASAR, Hans-Urs von, Kommentar, S. 134f.

[12] PETRI, Heinrich: Die Stellung Marias in der Kirche, S. 41

[13] ebd., S. 42

[14] SCHEFFCZYK, Leo: Maria und die Kirche in der Enzyklika „Redemptoris Mater“, S. 97

[15] BALTHASAR, Hans-Urs von, Kommentar, S. 134

[16] COURTH, Franz: Ökumenische Impulse der Enzyklika Redemptoris Mater. In: Lebendiges Zeugnis 43 (1988), S. 11

[17] SCHEFFCZYK, Leo: Maria und die Kirche in der Enzyklika „Redemptoris Mater“, S. 101

[18] RATZINGER, Joseph Kardinal: Das Zeichen der Frau: Versuch einer Hinführung zur Enzyklika „Redemptoris Mater“. In: Maria – Gottes Ja zum Menschen: Johannes Paul II. Enzyklika „Mutter des Erlösers“. Hinführung von Joseph Kardinal Ratzinger, Kommentar von Hans-Urs von Balthasar. Freiburg im Breisgau: Herder, 1987, S. 117

[19] SCHEFFCZYK, Leo: Maria und die Kirche in der Enzyklika „Redemptoris Mater“, S. 100

[20] LAURENTIN, René: Die marianische Frage. / Maria REINHARD (dt. Übers.). Freiburg im Breisgau: Herder, 1965, S. 141

[21] vgl. SCHEFFCZYK, Leo: Maria und die Kirche in der Enzyklika „Redemptoris Mater“, S. 100

[22] BALTHASAR, Hans-Urs von, Kommentar, S. 136

[23] vgl. SCHEFFCZYK, Leo: Maria und die Kirche in der Enzyklika „Redemptoris Mater“, S. 96

[24] PAUL VI.: Apostolisches Schreiben Marialis cultus (2. Februar 1974), Einleitung

[25] SEMMELROTH, Otto: Dogmatische Konstitution über die Kirche, Caput VIII: De Beata Maria Virgine Deipara in mysterio Christi et Ecclesiae: Kommentar. In: Lexikon für Theologie und Kirche. ErgBd. I. Freiburg i. Br.: Herder, ²1986, S. 343

[26] GRIGNION VON MONTFORT, Ludwig-Maria: Abhandlung über die wahre Marienverehrung. Ins Deutsche übertragen und bearbeitet von Hermann Josef Jünemann SMM, Vallendar-Schönstatt: Patris-Verlag, 1988, S. 104 f

[27] MEYER, Regina Pacis: Auf dem Pilgerweg des Glaubens: Spirituelle Impulse der Enzyklika Redemptoris Mater. In: Lebendiges Zeugnis 43 (1988), S. 44f