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Die leidvolle Frage des Beratungsscheins - eine Zwischenbilanz
(Juli 1999)

Andreas Laun

Hinweis/Quelle: Kirche heute, Juli/August 1999, S.4–10

I. Die Vorgeschichte

Seit Jahren schon arbeitet die Deutsche Kirche in der Schwangeren-Beratung mit. Allerdings ist sie damit ins Kreuzfeuer der Kritik geraten, seit auch kirchliche Stellen jenen – die Beratung bestätigenden – Schein ausstellen, der nach der derzeitigen Gesetzeslage in Deutschland nötig ist, um straffrei abtreiben zu können[1]. Die schwerwiegende Frage ist: Handelt es sich dabei nicht doch objektiv um eine Mitwirkung an der Abtreibung? Der Sachverhalt ist besonders verwickelt, weil die Deutsche Kirche ihre Beratungsstellen vorrangig eingerichtet hat, um Abtreibungen zu verhindern [2]. Die Frage hingegen enthält die Annahme: Möglicherweise wirkt die Kirche gerade durch ihre Bemühung, Abtreibung zu verhindern, an Abtreibungen mit [3]! Die Einbindung in das System, urteilt R. Spaemann in seiner glasklaren Analyse, „macht die Kirchen ungewollt zu Komplizen der Abtreibungsorganisation“[4].

Wahr ist zwar, daß einzelne Theologen eine ethische Theorie („teleologische Ethik“ oder „Güterabwägung“ genannt) vertreten, denen zufolge Abtreibungen in bestimmten Fällen – mit zwingender Logik der Theorie – richtig sind. Wahr ist auch, daß manche dieser Theologen ihre Thesen ausdrücklich auf die Frage Abtreibung angewandt haben, ohne daß sie, in öffentlich erkennbarer Weise, zur Rechenschaft gezogen worden wären [5], und wahr ist schließlich auch, daß in Folge solcher geistiger Einbrüche es sogar in den Richtlinien des Caritas-Verbandes heißt, man müsse die Entscheidung zur Abreibung „respektieren“[6]. Dennoch gibt es keinen Grund zu zweifeln: Die Deutsche Kirche ist „gegen Abtreibung“ – Häretiker vom Schlage eines E. Drewermann sind keineswegs repräsentativ.

Um so schmerzlicher stellt sich die Frage: Hat sich die Kirche nicht doch durch das Ausstellen der Beratungs-Scheine in das System so einbinden lassen, daß sie, gegen ihre Absicht, zur Mittäterin geworden ist? Die Stimmen derer, die diese Frage mit Ja beantworten, wurden im Lauf der Zeit immer zahlreicher und immer lauter.

Offenbar sieht Johannes Paul II. nicht nur diese Frage als berechtigt an, sondern auch die Antwort der Kritiker. Darum hat er im Jänner 1998 die Deutschen Bischöfe gebeten, die Art ihrer Beratungs-Praxis für schwangere Frauen zu überdenken und zu ändern: „Nach gründlicher Abwägung aller Argumente kann ich mich der Auffassung nicht entziehen, daß hier eine Zweideutigkeit besteht, welche die Klarheit und Entschiedenheit des Zeugnisses der Kirche und ihrer Beratungsstellen verdunkelt. Deshalb möchte ich Euch, liebe Brüder, eindringlich bitten, Wege zu finden, daß ein Schein solcher Art in den kirchlichen oder der Kirche zugeordneten Beratungsstellen nicht mehr ausgestellt wird. Ich ersuche Euch aber, dies auf jeden Fall so zu tun, daß die Kirche auf wirksame Weise in der Beratung der hilfesuchenden Frauen präsent bleibt.“

Daraufhin haben die Deutschen Bischöfe über Monate hin überlegt, schließlich haben sie dem Papst mehrere Änderungs-Vorschläge unterbreitet und ihn um die Letzt-Entscheidung gebeten. Leider löst bereits dieser Vorgang schmerzliche Verwunderung aus, und zwar in zweifacher Hinsicht:

Eine Entscheidung zu treffen, war sicher schwer: Auf der einen Seite stand das verpflichtende Papst-Wort, auf der anderen Seite wäre ein Ausstieg mit gewaltigen finanziellen Belastungen verbunden, und die Bischöfe hätten dabei, abgesehen von den medialen Angriffen, einen beachtlichen Widerstand aus den Reihen der Kirche selbst zu gewärtigen. So gesehen ist die Entscheidung schwer, aber schwierig ist die Frage nicht: als ob ihre gedankliche Abklärung und das Abwägen der Alternativen objektiv einen solch langen Zeitraum der Beratung gefordert hätte!

Schwerwiegender ist die andere kritische Frage: Wenn es wahr ist oder wäre, daß die Ausstellung eines Scheines objektiv „Mitwirkung an der Abtreibung“ bedeutet und darüber ein echter Zweifel bestand, wie konnte man in diesen vielen Monaten weitermachen? Angesichts der Materie, um die es ging, wäre der sogenannte moralische Tutiorismus am Platz gewesen, das heißt: Solange nicht feststeht, daß diese Praxis ohne Schuld weitergeführt werden kann, hat sie zu unterbleiben. Man bedenke: die Kirche belegt die Mitwirkung an Abtreibung sogar mit der Kirchenstrafe der Exkommunikation!

II. Die Entscheidung des Papstes

Nun aber haben die Deutschen Bischöfe dem Papst ihre Vorschläge unterbreitet, und der Papst hat mit seinem jüngsten Schreiben vom Juni 1999 geantwortet:

Zunächst anerkennt er den guten Willen der Bischöfe, er verweist nochmals auf die große Bedeutung der Beratungs- und Hilfsangebote und kommt dann zur Wertung der ihm vorgelegten Überlegungen: Während er den Vorschlag 2 und 3 rundweg ablehnt, stimmt er dem ersten Modell mit einem Vorbehalt zu: Er erinnert, daß er in seinem ersten Schreiben einen „anderen Schein“ gefordert hat, und anerkennt, daß der Vorschlag der Bischöfe seinem Wunsch „am nächsten“ komme. Um seine „rechtliche und moralische Qualität unzweideutig“ zu machen, sei allerdings noch ein deutlicher Vermerk auf dem Schein vonnöten: ,,Diese Bescheinigung kann nicht zur Durchführung straffreier Abtreibungen verwendet werden“.

Selbstverständlich geht es dem Papst nicht um das „Feigenblatt“ der Druckerschwärze eines Satzes, der die Abtreibung verneint, die fragwürdige — weil an der Abtreibung mitwirkende — Praxis aber um nichts verändert. Als ob der Satz als solcher eine schlechte Praxis in eine gute wandeln könnte! „Entscheidend“ — wirklich die Scheidung zwischen gut und böse herbeiführend — ist vielmehr „die Frage, ob der am Ende stehende Text weiterhin die Verwendung des Scheins als Zugang zur Abtreibung gestattet. Wäre dies der Fall, so stünde er im Widerspruch zu meinem eingangs erwähnten Schreiben und zur gemeinsamen Erklärung des Ständigen Rates Eurer Bischofskonferenz vom 26. Januar 1998, meiner Bitte Folge zu leisten und in Zukunft nicht mehr einen ´Schein solcher Art´ ausstellen zu lassen.“

Auch der offizielle Kommentar aus dem Vatikan stellt klar: „Damit die Verwendung des Scheins als Zugang zur Abtreibung nicht möglich ist, ordnet der Heilige Vater an, in Zukunft die erste von der Arbeitsgruppe vorgeschlagene Textvariante zu gebrauchen, in der nur das Ziel der kirchlichen Beratung und Hilfe erwähnt ist und nicht explizit auf die gesetzlichen Regelungen verwiesen wird, und den Vermerk anzufügen: ´Diese Bescheinigung kann nicht zur Durchführung straffreier Abtreibungen verwendet werden´. Infolge dieses Zusatzes handelt es sich dann wirklich um einen Schein anderer Art, dessen Funktion allein darin besteht, die kirchliche Beratung zu bestätigen und ein Anrecht auf die zugesagten Hilfen zu geben.“ Und nochmals unterstreicht der Text: „Dies wird zur Folge haben, daß die Kirche eine Konfliktberatung eigener Art anbietet und in einem konkreten Punkt vom Weg des Gesetzgebers abweicht.“

Die genaue Lektüre des päpstlichen Dokumentes zeigt also: Der Papst ist gegen jede Form von Mitwirkung an Abtreibung, und er ist für jede nur erdenkliche Beratung und Hilfe. Aber: Es gibt keine mittlere Lösung. Wenn er einen Schein zuläßt, dann nur unter der Bedingung, daß er „ganz und nur Beratungs-Schein“ ist und nicht „auch ein bisschen Abtreibungs-Schein“! Wenn die Bischöfe einen Schein aus irgendeinem Grund für zweckmäßig halten, können sie durchaus einen solchen ausstellen lassen, aber er muß rechtlich ungeeignet sein, mit seiner Hilfe eine Abtreibung durchführen zu lassen: Rechtsverbindliche Zusage von Hilfe Ja, rechtsgültige Ermöglichung einer straffreien Abtreibung Nein! Das und nichts anderes ist die Entscheidung des Papstes.

III. Folgerungen für die Deutsche Kirche

Wenn die Deutsche Kirche der päpstlichen Entscheidung wirklich gehorchen will, muß sie also, was den heiklen Punkt betrifft, wirklich „aussteigen“, das heißt aufhören, Scheine auszustellen, die vom Deutschen Gesetzgeber als Voraussetzung zur Abtreibung anerkannt werden.

In der Folge gibt es zwei Möglichkeiten, die aber nicht in der Hand von Bischöfen liegen, sondern in der des Gesetzgebers:

  • Die gesetzgebende Instanz kann das Gesetz ändern, und die Kirche bleibt dann in den jetzt neuen und anderen staatlichen System der Beratung, weil eben der Staat nun auch Beratungs-Stellen akzeptiert und bezahlt, die keine abtreibung-ermöglichende Scheine mehr ausstellen, sondern sich ganz und ausschließlich auf Beratung und Hilfe zum Leben konzentrieren. Damit trägt die Kirche im Sinne des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes zum Lebensschutz auf ihre Weise bei.
  • Es kann aber auch sein, daß der Staat auf der bestehenden Gesetzeslage beharrt. Dann gibt es nochmals zwei Möglichkeiten:
  • Entweder der Staat verwirft die neuen Scheine der Kirche, weil sie der Forderung des Gesetzes nicht entsprechen. So etwa meint B. Büchner, Verwaltungsrichter in Freiburg[7], und auch der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, G. Kindermann glaubt, der Schein mit dem päpstlichen Aufdruck könne wohl nicht anerkannt werden. Was aber die Kirche betrifft, gilt: Wenn das so ist, kann die Kirche den Schein weiter ausstellen.
  • Oder der Staat akzeptiert auch die neuen Scheine als gültig im Sinn des Gesetzes, weil er den Aufdruck für rechtlich unerheblich hält. Nach den ersten Meldungen ist genau dies der Fall. In diesem Sinn äußerte sich bereits die deutsche Justizministerin H. Däubler-Gmelin (SPD), ebenso der SPD-Rechtsexperte W. Penner und Regierungsmitglieder der Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg, ebenso der rheinland-pfälzische Justizminister P. Caesar [8]. Die Generalstaatsanwaltschaft von Koblenz und jene von Zweibrücken stellen fest: „Der Zusatz ist strafrechtlich ohne Bedeutung. Nach § 218a Abs.1 StGB ist ein vom Arzt vorgenommener Schwangerschaftsabbruch straflos, wenn seit der Empfängnis nicht mehr als 12 Wochen verstrichen sind, wenn die Schwangere den Abbruch verlangt und sie dem Arzt durch eine Bescheinigung nachgewiesen hat, daß sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff von einer anerkannten Stelle hat beraten lassen. An dieser Rechtslage ändert sich auch dann nichts, wenn die von den katholischen Beratungsstellen ausgestellten Scheine künftig mit dem Zusatz versehen werden, daß sie nicht zur Durchführung einer straffreien Abtreibung verwendet werden können... Ob eine Abtreibung straffrei ist oder nicht, richtet sich ausschließlich daran, ob die gesetzlich erforderliche Beratung stattgefunden hat. Der Beratungsschein muß nur den Namen und das Datum des Beratungsgespräches angeben sowie die Erklärung enthalten, daß die Beratung stattgefunden hat“ [9].

Diese Ausführungen leuchten auch einem juristischen Laien ein. Was aber die Kirche betrifft: Wenn es so ist, wird die Kirche darauf verzichten müssen, solche weiterhin für Abtreibung verwendbare Scheine auszustellen, unabhängig davon, ob sie dadurch die Finanzierung ihrer Beratungsstellen verliert oder nicht.

Die gesetzgebende Instanz kann aber nun in jedem Fall die Regelung treffen, daß der Staat auch Beratungsstellen finanziert, die keine abtreibung-ermöglichenden Scheine mehr ausstellen, sondern sich ganz und ausschließlich auf Beratung und Hilfe zum Leben konzentrieren. Ob und inwieweit dafür das Gesetz geändert oder ein neues Beratungskonzept geschaffen werden müßte, wäre Sache des Gesetzgebers. Jedenfalls läge es ganz auf der Linie des Bundesverfassungsgerichts-Urteils, wenn der Staat neben dem System der Zwangsberatung auch solche Beratungsstellen als Beitrag zum Schutz des Lebens akzeptieren und bezahlen würde. Für eine solche finanzielle Unterstützung ihrer Hilfsangebote durch den Staat könnte die Kirche mit rechtlichen Mitteln kämpfen.


Mit anderen Worten: Um der Forderung des Papstes – die eigentlich nichts anderes ist als die Forderung des Gebotes Gottes – gerecht zu werden, gibt es für die deutsche Kirche nur einen Weg: zu versuchen, die Anerkennung ihres Beratungsangebots auf der Grundlage des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zu erreichen. Dem „neuen Schein“, der keine straffreie Abtreibung ermöglicht, müßte ein neues, erweitertes Beratungskonzept des Staates entsprechen: Die Kirche stellt Beratung und Hilfe für Schwangere in Not zur Verfügung, und weil dem Staat am Lebensschutz liegt, finanziert er diese wichtige Leistung der Kirche.

IV. Die Reaktion der Deutschen Kirche

Inzwischen hat, wie bekannt, der Ständige Rat der Deutschen Bischofskonferenz — also nicht alle Bischöfe! – eine Stellungnahme abgegeben, und im Internet kann man eine Erklärung des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz zur aktuellen Diskussion abrufen.

1. Die Antwort des Ständigen Rates der Deutschen Bischofskonferenz

Zunächst erklären sich die Bischöfe bereit, den vom Papst gewünschten Satz zur besseren Klarstellung der kirchlichen Haltung anzunehmen und ihn auf den Schein, der in ihren Beratungsstellen ausgegeben wird, aufzudrucken. Dann aber verleihen sie, im letzten Satz, ihrer Hoffnung Ausdruck, „daß die kirchlichen Beratungsstellen im Rahmen des Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetzes (§ 5 ff) vom 21. August 1995 als anerkannte Beratungsstellen ihre eigene Aufgabe erfüllen und ihre Tätigkeit weiter ausüben“ können.

Mit keinem Wort erwähnt die Erklärung die eigentlich heikle Frage, was die Tätigkeit „im Rahmen des Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetzes (§ 5 ff) vom 21. August 1995 als anerkannte Beratungsstellen“ heißt: „Anerkannt“ im Sinn des derzeit gültigen Gesetzes kann sie doch nur sein, wenn sie einen Schein ausstellt, der eine Abtreibung ermöglicht? Und was heißt „ihre Tätigkeit weiter ausüben“? Wieso kann sie „ihre“ Tätigkeit „weiter“ ausüben, wenn der neue Schein nur noch kirchenintern bedeutsam sein wird und nicht mehr wie bisher im Sinn des Gesetzes „gültig für Abtreibung“ ist? Mit einem Wort und rundheraus gesagt: Die Formulierungen lassen den dringenden Verdacht aufkommen, daß diese Erklärung alles beim alten belassen will – mit Ausnahme des vom Papst gewünschten Aufdrucks! Dieser hätte nur noch die „Wirkung“ einer moralischen Belehrung, aber ohne rechtliche Konsequenzen. Das heißt, er würde an der Praxis überhaupt nichts ändern, und das Schlimme ist: Die rechtliche Wirkungslosigkeit des Zusatzes scheint erwünscht zu sein!

Der Verdacht erhärtet sich zur Gewißheit, wenn Bischof Lehmann in einem Spiegelinterview damit rechnet, daß die Frau mit auch mit dem neuen Schein abtreiben lassen kann. Auf die Frage des Journalisten, was geschieht, wenn der Staat den Schein mit dem Aufdruck nicht anerkennen sollte, erklärt er unverblümt: „Notfalls lassen wir eine Nicht-Anerkennung gerichtlich klären“[10].

Man kann dies schwerlich eine Position nennen, die nicht mehr „reibungslos“ ist, wie P. Zulehner meint[11]: Dort, wo sie es sollte, nämlich im Räderwerk des Rechtes, „reibt“ sie nämlich nicht, sondern läuft weiter wie geschmiert, um im Bilde zu bleiben.

Wenn die Bischöfe des Ständigen Rates ihre Erklärung wirklich im oben dargelegten Sinn des päpstlichen Briefes verstanden wissen wollten, müßten sie einen beschwörenden Appell an den Gesetzgeber richten: Bitte, macht ein neues Gesetz und anerkennt die Beratungsstellen der Kirche, obwohl sie in Hinkunft „den Schein“, der dem Gesetz entspricht, nicht mehr ausstellen werden!

Bei diesem Ansuchen um „Akzeptanz“ des Staates würde es freilich nur noch um die Finanzierung gehen, denn dafür, daß die Kirche auf eigene Kosten Beratung anbieten darf, bedürfte sie keiner Erlaubnis von seiten des Staates.

Meinen die Bischöfe wirklich das, was der Papst will, nämlich einen rechtlich für Abtreibung ungültigen Schein? Was soll dann aber die KNA-Meldung bedeuten, in der es heißt: Bischof Lehmann „rief die staatlichen Instanzen auf, den Zusatz zu akzeptieren, da der Schein allen gesetzlichen Vorgaben entspreche“? Man fragt sich beklommen, was der Bischof mit den „gesetzlichen Vorgaben“ meint: es sind doch gerade jene, die den Schein als Voraussetzung für Abtreibung definieren? Ein Schein, der diese „Vorgaben“ erfüllt und von staatlicher Seite im Sinn des Gesetzes akzeptiert wird, wäre doch wieder genau der alte Schein, nur anders bedruckt. Wenn er „gesetzeskonform“ ist und nicht wirklich anders, würde er die Verantwortlichen der Deutschen Kirche objektiv und trotz ihrer guten Absichten ipso facto genauso wie bisher mitschuldig an den Abtreibungen machen.

2. Die Stellungnahme von Bischof K. Lehmann

Aufschlußreich dazu ist die Erklärung von Bischof K. Lehmann, dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz:

Bischof Lehmann will nicht am Gesetz rütteln. Offenkundig meint und hofft er: Trotz des Wortlautes des päpstlichen Schreibens will er den vom Papst geforderten Zusatz nur als moralischen Appell ohne rechtliche Bedeutung verstanden wissen. Der aufschlußreichste Absatz der Ausführungen Lehmanns zeigt, wo er und viele Bischöfe Deutschlands stehen:

“Für den staatlichen Rechtsbereich bedeutet der Zusatz nicht, daß eine solche Bescheinigung das Schwangerschaftskonfliktgesetz einfach unterläuft, gar `aushebelt´ oder einzelne Bestimmungen in einem rechtlichen Sinne außer Kraft zu setzen versucht. Wir wollen mit aller Klarheit feststellen, daß es eine moralische Unmöglichkeit ist, den zum Lebenserhalt bestimmten Beratungsnachweis zugleich im Zusammenhang einer Abtreibung zu benutzen. Die Kirche ist der Überzeugung, daß sie eine solche letzte, ethisch orientierte Zuspitzung im Sinne einer wirksamen Aufforderung vornehmen darf und muß.“

Den vom Papst verlangten Satz hält Lehmann nur für einen Zusatz, durch den „die Dringlichkeit eines Einsatzes für das Leben auch sprachlich bis zum äußersten gesteigert“ wird — „sprachlich“ noch stärker als die eigene Formulierung und „moralisch“ gültig, aber nicht rechtlich. Auf der Ebene des Rechtes gilt: Es muß „deutlich gesehen werden, daß wir auch mit diesem Zusatz in der gesetzlichen Schwangerenkonfliktberatung bleiben wollen und bleiben können.“ Folgerichtig ersucht Bischof Lehmann die zuständigen Instanzen nicht um eine Änderung des Gesetzes, sondern bittet um „ihr Verständnis“ und für die kirchliche Beratung um die „Anerkennung im Rahmen der gesetzlichen Schwangerschaftskonfliktberatung“, da sie doch „alle gesetzlich vorgeschriebenen Merkmale aufweist“!

Während also Bischof Lehmann beschwörend feststellt, daß die kirchliche Beratung „alle gesetzlich vorgeschriebenen Merkmale“ aufweist und daher staatlich anzuerkennen sei, sagt der Papst, die Bescheinigungen der Kirche dürften eben nicht die nach dem Gesetz „notwendige Voraussetzung für die straffreie Durchführung der Abtreibung“ besitzen. Das ist die Gretchenfrage: „Entscheidend“ – so wieder Johannes Paul II. – für die Wertung des Vorschlags ist die Frage, ob der am Ende stehende Text weiterhin die Verwendung des Scheins als Zugang zur Abtreibung gestattet.“ Wenn ja, dann muß er aufgegeben werden, wenn nein, ist er annehmbar (wenn auch vielleicht überflüssig).

Übrigens spürt auch Bischof Lehmann das Dilemma, wenn er im ZDF-»Heute-Journal» sagt: «Seit Jahren sage ich schon, daß wir keine Tricks wollen, und das war das erste bei mir, daß ich selber dieser Lösung gegenüber auch etwas Vorbehalte hatte, weil ich keine trickige Angelegenheit will. Aber es liegt doch in der Sache selber eine Spannung drin, die ich nicht auflösen kann.» Es wäre gut zu wissen, worin er sein Unvermögen begründet sieht. Denn die „Spannung“ ist, genau besehen, nichts anderes als der Widerspruch zwischen Bischof Lehmann und dem Papst: Was Abtreibung betrifft, sind sie sich auf der moralischen Ebene einig, nicht aber in der Frage des Rechtes und der Mitwirkung an Abtreibungen. Treffend bringt R. Beckmann die Sache auf den Punkt: „Während der Papst in völliger Klarheit die Nutzung des Beratunsscheines für straffreie Abtreibungen ausschließen will, streben die Bischöfe die Anerkennung des geänderten Beratungsscheines als Straflosigkeitsvoraussetzung geradezu an.“ Aber damit „hat der Papstbrief vom 3. Juni sein Ziel verfehlt“[12]. Ganz ähnlich spricht auch G. Horst von einem „Januskopf“: „Dem Papst zugewandt erklärt man, daß das, was man da austeilt, nicht für eine Tötung verwandt werden kann, der beratenden Frau zugewandt versichert man das Gegenteil“[13].

Es ist, wie wenn eine Regierung, die im Rahmen der Abrüstung Panzer verschrotten muß, die Anweisung gibt, auf die intakten Waffensysteme nur aufmalen ließe: Dieser Panzer kann nur zum Ziehen landwirtschaftlicher Geräte benützt werden. Es gibt wohl niemand, der dies als Friedenssicherung bezeichnen würde.

V. Kritische Anfragen

“Ein katholischer Bischof darf und muß auch dem Papst gegenüber seine in der Erfahrung gewonnenen und durch eine Gewissensprüfung gefestigten Einsichten darlegen – und dies auch durchaus beharrlich –, aber es kann keine grundsätzlich illoyale Konfliktstrategie geben.“ So skizziert Bischof Lehmann einleitend seine Ausführungen, und im Sinne eben dieses Freimutes sind auch seine Überlegungen und der ganze Vorgang einer kritischen Prüfung zu unterziehen:

  1. Wieso hat die Antwort der Bischöfe so lange gedauert? Die intellektuelle Klärung konnte kaum so viel Zeit in Anspruch nehmen, und angesichts der Schwere der Frage wäre höchste Eile geboten gewesen.
  1. Warum wurde die fragwürdige Praxis der Schein-Ausstellung nicht bis zur Klärung ausgesetzt, sogar wenn dies mit großen Kosten und dem Risiko verbunden gewesen wäre, daß sich ein „Zurück“ als schwierig erwiesen hätte? Es ging doch um (schwere!) Sünde oder Nicht-Sünde (und eine schwere kirchenrechtliche Sanktion, nämlich Exkommunikation).
  1. Warum antwortet in dieser schwerwiegende Frage nur der Ständige Rat der Deutschen Bischöfe? In welcher Form wurden alle anderen Bischöfe eingebunden?
  1. Man vermißt die nötige Offenheit: Man bekennt sich zur Treue, aber man tut und will genau das, was der Papst ablehnt: „Ungehorsam im Kostüm des Gehorsams“, urteilt treffend M. Dobrinski in der Süddeutschen Zeitung [14]. So gesehen ist der gehässige Spott und Hohn (z.B. R. Losch: „frommer Etikettenschwindel“, V. Hermann: „Feigheit und Doppelbödigkeit“, „Scheinheiligkeit“, „Trick“ etc.), den die Presse in unmittelbarer Reaktion bisher über die armen Deutschen Bischöfe ausgegossen hat, nicht in jeder Hinsicht ungerecht.
  1. Wenn die Bischöfe auch an die Richtigkeit ihres Standpunktes glauben: Müßten sie nicht erschrecken und zu zweifeln beginnen, wenn sie ausgerechnet von F. Stapf, einem der bekanntesten Abtreiber Deutschlands, gelobt und ihre Lösung als „Königsweg“ bezeichnet wird? Und: Würden sie selbst den Schein unterschreiben wollen?
  1. Es fehlt in der Stellungnahme eine sachliche Auseinandersetzung: Hätte man nicht unbedingt auf die Argumente des Papstes (und aller anderen Kritiker) eingehen müssen?
  1. Man kann sich nur wundern, wenn ein hochrangiger Vertreter der Deutschen Kirche erklärt: «Was dann später mit dieser Bescheinigung geschieht, liegt nicht mehr in unserer Hand.“ Wieso – das war doch immer schon so: Es lag nicht in der Hand der Bischöfe, aber man wußte, was die Leute damit machen werden, nämlich abtreiben?
  1. Man fragt sich beklommen: Wie soll es weitergehen? Soll der Papst öffentlich feststellen, daß er betrogen worden ist? Wenn er nochmals schreibt, werden die Bischöfe dann gehorchen? In den Augen der Ungläubigen wäre es ein peinlicher Vorgang, aber vor Gott wäre es eine Großtat und ein Trost für gläubige Menschen.
  1. Es wäre gut gewesen, wenn sich die Bischöfe auch zu dem immer wieder geäußerten Verdacht, es ginge bei der ganzen Sache nicht nur, aber auch um das Geld, deutlich abgegrenzt hätten – etwa durch entsprechende, von der Kirche finanzierte Angebote.
  1. In der weltweiten Liberalisierung des Tötens von Unschuldigen steckt objektiv eine geistige Verwandtschaft zum Ungeist der großen ideologischen Diktaturen des vergangenen Jahrhunderts. Dieser Vergleich der Abtreibung mit früheren Verbrechen ist keine „Verharmlosung des Geschehenen“, sondern eine Bewußtmachung der „Schwere des Gegenwärtigen“. Denn dieses „Gegenwärtige“ ist trotz der guten Absichten, die niemand bestreitet, entweder Mitwirkung der Kirche an Abtreibung oder es bringt die Kirche „nur“ in das schiefe Licht des Anscheins einer solchen. Dazu kommt noch der fatale Eindruck der Nicht-Einigkeit mit dem Papst. Angesichts dieser Sachlage kann man die Deutschen Bischöfe nur inständig bitten: Steigt aus! Wirklich verpflichtet sind Bischöfe nicht irgendeinem Gesetzeswerk der Deutschen Regierung – und schon gar nicht diesem Unrechts-Gesetz, das Tötung von Menschen möglich macht! –, sondern nur jenem „göttlich-menschlichen Beratungs- und Hilfs-System“, dessen Haupt Christus ist und dem sie dienen dürfen – nach Seinem Gesetz, das im Konfliktfall über allen Menschengesetzen steht.

 

 


 

 

[1] Vgl. zur gesamten Problematik : W. Gut, Der Staat und der Schutz des ungeborenen Lebens. Kriens 1998. Aus den Ausführungen Guts folgt: Das deutsche Gesetz ist nichts anderes als eine verkappte Fristenlösung. Vgl auch G. Sala, Kirchliche Beratungsstellen und Mitwirkung am Abtreibungsgesetz. Frankfurt 1998.

[2] Vgl. Spiecker M., Zur Problematik des Beratungs- und Hilfeplans in der kirchlichen Schwangerenberatung. In: Zeitschrift für Lebensrecht 1/1999, 2–10.

[3] Vgl. zum Problem der Mitwirkung: Laun A., Beratung ohne Schein – Gesetzesänderung? In: Kirche heute 3/1998, 9–12.

[4] R. Spaemann, Verantwortung für die Ungeborenen. In: Schriftenreiche Juristen-Vereinigung Lebensrecht Nr.8. Köln 1991,13–30.

[5] Vgl. Laun A., Fragen der Moraltheologie heute. Wien 1992, 27ff; 149ff.

[6] Vgl. die Widerlegung bei R. Spaemann, Verantwortung für die Ungeborenen. In: Schriftenreiche Juristen-Vereinigung Lebensrecht Nr.8. Köln 1991,13–30,25.

[7] B. Büchner, Juristische Zweifel am neuen Konzept. In: Welt 24.6.1999.

[8] Vgl. Kathpress 25.6.1999,8. Salzburger Nachrichten 24.6.1999,6.

[9] Presseerklärung des Justizministeriums 24.6.1999.

[10] Spiegel 26.6.1999,61. – Auch in der Pressekonferenz vom 23. Juni 1999 hatte Bischof Lehmann die Möglichkeit erwähnt, „den Rechtsweg“ zur Anerkennung zu beschreiten.

[11] P. Zulehner im Berliner Tagesspiegel: vgl. Kathpress 25.6.1999,9.

[12] Deutsche Tagespost 26.6.1999,5.

[13] Deutsche Tagespost 26.6.1999,2.

[14] Süddeutsche Zeitung 25.6.1995.