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Hans Urs von Balthasar – Gestalt und Wirkung
Zum 100. Geburtstag (12. August 2005)

Stefan Hartmann

Hinweis/Quelle: © Dr. theol. Stefan Hartmann, Bamberger Str. 10, 96173 Oberhaid Dieser Beitrag wurde mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers auf www.stjosef.at erstmals am 12.08.2005 veröffentlicht und am 23.01.2010 wieder eingestellt.

Rang und Bedeutung des Werkes und der Wirksamkeit des Basler Theologen, freien Schriftstellers, Übersetzers und Verlegers Hans Urs von Balthasar (1905–1988) sind kaum noch umstritten. In einem allgemeinverständlichen Buch über bedeutende zeitgenössische Theologen äußerte sich der evangelische Systematiker Horst Georg Pöhlmann so: „Hans Urs von Balthasar ist der wohl wuchtigste, kantigste und eigenwilligste unter den großen katholischen Gegenwartstheologen. Sein Œuvre erreicht an Umfang, Tiefgang und Sprachgewalt Luther’sche Dimensionen.“[1] Viel zitiert wurde das Urteil seines Lehrers im Lyoner Jesuitenkollegiums, Henri de Lubac (1896–1991), dass Balthasar „vielleicht der gebildetste Mann seiner Zeit“[2] sei. Der große Franzose, Vermittler der Kirchenväter und kritischer Freund Teilhards de Chardin, der sich auch intensiv mit dem modernen Atheismus und mit Nietzsche befasste, fügte in seiner damaligen Würdigung anlässlich des 60. Geburtstages Balthasars die Bekräftigung hinzu: „Und wenn es noch so etwas wie eine christliche Kultur gibt, hier ist sie!“[3] Jemand, der ihm erstmals begegnete, soll gesagt haben: „Ich hatte den Eindruck, ihn schon seit je zu kennen. Es schien mir, als ginge ich mit einem unter die Helvetier verschlagenen Kirchenvater spazieren, zu dessen Vorfahren ebenso die Magier-Könige wie Wilhelm Tell zählten.“[4]

Der Verfasser einer mehrbändigen „theologischen Ästhetik“[5] sei nun selbst knapp „wahrgenommen“ und in seiner „Gestalt“ erblickt. Dabei gilt für ihn und seine Rolle in der Theologie und geistigen Auseinandersetzung der Gegenwart auch jene Matthias-Claudius-Strophe, die er seinem nachkonziliaren Erfolgsbüchlein „Klarstellungen. Zur Prüfung der Geister“ voranstellte: „Sehr ihr den Mond dort stehn? / Er ist nur halb zu sehen,/ Und ist doch rund und schön!/ So sind wohl manche Sachen,/ Die wir getrost belachen,/ Weil unsre Augen sie nicht sehn.“ Da sind als „manche Sachen“ seine unangefochtene Katholizität, seine Unabhängigkeit gegenüber Vereinnahmungen von welcher Seite auch immer, seine unbestechlichen und oft weh tuenden Urteile (es gab für ihn keine „theological correctness“) und nicht zuletzt seine Verbindung zur Basler Ärztin, Konvertitin und Mystikerin Adrienne Kaegi-von Speyr (1902–1967), die 1950 zu seinem Austritt aus dem Jesuitenorden führte, weil er durch eine übernatürliche Eingabe des hl. Ignatius von Loyola mit ihr den geistlichen „Auftrag“[6] erhielt, eine vorwiegend aus Laien bestehende „Johannesgemeinschaft“ zu gründen, was dann zu manchen Vorurteilen und Ressentiments führte. Hinzu kam ein gelegentlich als elitär-unnahbar und (trotz Gründung einer „Communio“ genannten, von ihm selbst wesentlich redigierten und geleiteten internationalen katholischen Zeitschrift) „solitär“ empfundenes Erscheinen und Auftreten, obwohl sich Balthasar kaum einer berechtigt an ihn herangetragenen Bitte um ein seelsorgerisches Gespräch, einen Vortrag oder einen schriftlichen Beitrag entzogen hatte, nur mit großer Reserve von sich selbst sprach und eine große Freundlichkeit und Heiterkeit ausstrahlen konnte. Dies alles mag aber dazu beigetragen haben, dass Balthasars Rezeption und sichtbare Wirkung vor allem in deutschsprachigen Gebieten zunächst hinter der anderer bekannter Theologen (Karl Rahner, Hans Küng) zurückblieb. In Italien, Frankreich und vor allem den angelsächsischen Ländern hat eine breite Beschäftigung mit seinem Werk eingesetzt und sogar im Jesuitenorden inzwischen dem Einfluss Rahners den Rang abgelaufen[7]. Doch war und ist er zunehmend auch hierzulande weit mehr als bloß ein „Geheimtipp“. Seine zahlreichen Schriften sind über die Auslieferung des „Johannes Verlags Einsiedeln“, der nach einem kurzen Intermezzo in Trier seit 1990 seinen Sitz in Freiburg im Breisgau hat, lückenlos erhältlich und ein internationales Gesamtverzeichnis der immens wachsenden Sekundärliteratur ist seit einiger Zeit über das Internet einsehbar.[8] Nach seinem unerwarteten Tod zwei Tage vor der durch Papst Johannes Paul II. geplanten Kardinalserhebung – das Zusammentreffen der beiden Ereignisse hat ihm wohl die größte Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit beschert, auch in der ihn lange ignorierenden schweizerischen Heimat – wurde von den damaligen Herausgebern der „Internationalen katholischen Zeitschrift Communio“ ein erster Sammelband mit vielen Aufsätzen zu Person und Werk veröffentlicht.[9] 1993 erschien die maßgebliche, aus dem Italienischen übersetzte, mit mehreren Photographien illustrierte und einem Dokumentenanhang versehene Monographie des langjährigen Freundes und Communio-Mitarbeiters Elio Guerriero[10]. Eine leicht lesbare lebendige Profilskizze verfasste 1995 der Mainzer Theologe Thomas Krenski[11]. Als Ergänzung dazu liegt seit 2002 die knappe Einführung in Leben und Werk aus der Reihe „Zeugen des Glaubens“[12] des Bonner Dogmatikers Michael Schulz vor, der in einer Art „Experiment“ den theologischen Ansatz Balthasars „von oben“ mit dem anthropologischen Ansatz Karl Rahners zu vermitteln sucht. 1995 und 1998 veranstaltete die 1993 beim Bischof von Basel in Solothurn errichtete „Hans Urs von Balthasar-Stiftung“[13] an der Universität Fribourg (Schweiz) jeweils ein wissenschaftliches Symposion zu den Themen „Vermittlung als Auftrag“ und „Wer ist die Kirche?“ An seinem 17. Todestag (26. Juni 2005) wurde ihm jüngst in Luzern in Anwesenheit von drei Kardinälen posthum der mit 30.000 Franken dotierte „Augustin-Bea-Preis“ der „Internationalen Stiftung Humanum“ zuerkannt, den die „Hans Urs von Balthasar-Stiftung“ zum Aufbau eines Balthasar-Archivs in Basel verwenden will. Zum 100. Geburtsjubiläum am 12. August 2005 fanden und finden international mehrere wissenschaftliche Symposien statt.

Wofür steht aber nun Werk und Wirkung des Schweizer Gelehrten und Kirchenmannes? Es gibt nicht die Schablone, die ihm gerecht werden würde: progressiv oder konservativ, thomistisch oder modernistisch, auch der so genannten „nouvelle théologie“ lässt er sich trotz seines Lyoner Studiums nicht einfach zuordnen. Sein vorkonziliar progressives Image („Schleifung der Bastionen“, 1952) kehrte sich nachkonziliar fast in sein Gegenteil um, seit er mit „Cordula oder der Ernstfall“ (1966) harte Anfragen an Karl Rahners „anonymes Christentum“ richtete oder in indirekter Bezugnahme auf Carl Schmitt den „antirömischen Affekt“ (1974) als „Selbstzerstörung der Kirche“ (so 1986 in der FS Joseph Ratzinger) ausmachte. Ebenso heftig stritt er sich mit Tendenzen in seinem ehemaligen Orden, der allzu einseitig sich auf die teilweise marxistisch inspirierten Befreiungstheologien und dogmatischen Dekonstruktionen einließ, wie auch mit der von ihm als „integralistisch“ missverstandenen ebenfalls spanischen Neugründung „Opus Dei“, der er in einem Leserbrief zuletzt doch das Prädikat „absolut katholisch“ geben konnte. Unter den neuen geistlichen Bewegungen am nächsten stand ihm gewiss die vom Priester Luigi Giussani gegründete italienische „Comunione e Liberazione“, auch wenn er dort ebenso wie bei Schönstatt und den Focolarini Gefahren einer „gewissen Ideologie“ der Selbstverabsolutierung sah. Irritationen verursachte Balthasar zuletzt durch seine – wenn auch theologisch abgesicherten – Annäherungen an eine origenistisch-barthianische „Allversöhnungslehre“, die den Ernst der biblischen Botschaft aufzulösen droht („leere Hölle“).

Was den Zugang zu seinem breiten Werk angeht, machte Balthasar im Gespräch mit Michael Albus anlässlich seines 70. Geburtstages 1975 einmal die Bemerkung: „Meine Bücher sind keine zünftige Theologie, darum für Dissertationen auch nicht sonderlich geeignet.“[14] Er will keine „Schule“ bilden und betrieb auch keine Schultheologie: „Schultheologie gibt es vielleicht schon kaum mehr.“[15] Angebote von Lehrstühlen hat Balthasar mehrfach abgelehnt. Seit er 1940 erstmals vor die Wahl dieser Alternative gestellt war, zog er den pastoralen Dienst am geistlichen Leben stets der universitären Laufbahn vor. Sein Gang des Denkens war oft assoziativ und verweisend auf andere: „Origenes oder Bernanos ... stehen mir zum Beispiel näher als manches von mir selbst Geschriebene.“[16] Als die entscheidende „Schule“ gelten ihm die Heiligen: „Die Liebenden wissen am meisten von Gott, ihnen muss der Theologe zuhören.“[17] Im Geleitwort zum ersten Band seiner bewusst „Skizzen zur Theologie“ genannten Aufsatzsammlungen deutet er zu seinem eigenen Vorgehen an, was auch beim Aufbau des inzwischen vielfach auch akademisch rezipierten Hauptwerkes der Trilogie noch zu spüren ist:

„Die hier gesammelten Stücke sind mehr Hinweis und Entwurf als durchgeführte Theologie. Sie ergeben zusammen nicht mehr als ein Skizzenbuch und stellen keinen Anspruch auf Endgültigkeit. Doch geschieht es beim fragmentarischen Charakter menschlicher Arbeit, dass ein erster Wurf wie im Flug etwas festhält, was die sorgfältige Ausarbeitung unversehens verloren hat, die vielleicht schon zum Akademischen unterwegs ist. Auch verwundert es nicht, wenn oft in Skizzenbüchern ein paar Themen wie fixe Ideen umkreist und von allen Seiten her angegangen und versucht werden; eine gewisse Faszination der unfassbaren Mitte ist schuld an solcher Wiederholung und Überschneidung.“[18]

Balthasars Denken und Schreiben verläuft in Kreisbewegungen und deutet im Sinne Goethes hin auf eine lebendige „Gestalt“, die vorgegeben ist und nicht kantianisch an ein bloßes „Raster“ der Erkenntnis oder eine lineare „Methodologie“ anzupassen ist. Diese Gestalt – letztlich die Offenbarung der göttlich-dreieinigen Liebe in Jesus Christus – will auch in ihrer intellektuellen Durchdringung als „reale Gegenwart“ wahrgenommen werden, weshalb sie sich dem rein akademischen Zugriff, der sie den Interpretationsnormen einer „sekundären Welt“ unterwirft, entzieht und ihn so schwierig macht. Gerade auch unter dem künstlerischem Aspekt, der – im Gegensatz zu den Antithesen Kierkegaards zwischen Ästhetik, Ethik und Religion – keinerlei Widerspruch zur Normativität seines Denkanspruchs enthält, kann man daher die von Botho Strauß unterstützten Thesen des Kunsttheoretikers und Literaturwissenschaftlers George Steiner[19] auch für die Aufnahme und Nachwirkung des Balthasarschen Werkes als gültig erkennen. Dass der wahrhaft europäischen persönlichen „Gestalt“ Balthasars[20] dabei auch eine „Gestaltlosigkeit“ in Rezeption und Wahrnehmung korrespondiert, entspricht dem „Thema“, dem er sich als berufener Christ wie Johannes der Täufer auf dem Bild Grünewalds als „Johannesfinger“ mit seinem ganzen Leben und Wirken gewidmet hat. Es ging ihm in seiner Theologie und in seinem mit Adrienne von Speyr gegründeten, den evangelischen Räten verpflichteten Säkularinstitut „Johannesgemeinschaft“ immer um die unverfälschte Ausstrahlung der katholischen Glaubenswahrheit in die Welt, der nach der „Schleifung der Bastionen“ der Kern der allein glaubhaften christlichen Liebe und der grenzenlosen Hoffnung zu vermitteln ist – durch die Kirche und gesandte Zeugen, die „in Gottes Einsatz leben“.[21]


[1] H. G. Pöhlmann, Gottesdenker. Prägende evangelische und katholische Theologen der Gegenwart. 12 Porträts. Geleitwort von Milan Machovec, Hamburg 1984, 229.

[2] H. de Lubac, Ein Zeuge Christi in der Kirche: Hans Urs von Balthasar, in: IKaZ 4 (1975), 390–409, 392.

[3] Ebd.

[4] Ebd. 409.

[5] Herrlichkeit. 7 Bde. Einsiedeln 1961–1969.

[6] Vgl. H.U. von Balthasar, Unser Auftrag. Bericht und Weisung, Freiburg ²2004.

[7] Vgl. jüngst: E.T. Oakes SJ, D. Moss (Ed.), The Cambridge Companion to Hans Urs von Balthasar, Cambridge 2004.

[8] Vgl. http://mypage.bluewin.ch/HUvB.S.Lit/

[9] K. Lehmann, W. Kasper (Hg.), Hans Urs von Balthasar – Gestalt und Werk, Köln 1989.

[10] E. Guerriero, Hans Urs von Balthasar. Eine Monographie, Freiburg 1993.

[11] Th. Krenski, Hans Urs von Balthasar. Das Gottesdrama, Mainz 1995.

[12] M. Schulz, Hans Urs von Balthasar begegnen, Augsburg 2002.

[13] www.balthasar-stiftung.org

[14] Abgedruckt in: H. U. von Balthasar, Zu seinem Werk, Freiburg ²2000, 104

[15] Ebd. 111.

[16] Ebd. 108.

[17] Glaubhaft ist nur Liebe, Einsiedeln 1963, 7.

[18] Verbum Caro, Einsiedeln 1960, 7.

[19] G. Steiner, Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Mit einem Nachwort von Botho Strauß, München 1990.

[20] Vgl. im Geiste verwandt R. Guardini, „Damit Europa werde...“ Wirklichkeit und Aufgabe eines zusammenwachsenden Kontinents, Mainz 2003. Dazu unser Aufsatz in MUT (Asendorf), Heft 9/1999.

[21] Wir spielen damit an auf Balthasars Programm-Buchtitel „Schleifung der Bastionen“ (1952), „Glaubhaft ist nur Liebe“ (1963), „In Gottes Einsatz leben“ (1971), „Katholisch“ (1975) und „Was dürfen wir hoffen?“ (1986), die ähnlich zentral seine Anliegen und sein Denken repräsentieren wie die erstmals 1950, dann in einer neuen Fassung 1959 publizierte „Theologie der Geschichte“ (vgl. S. Hartmann, Christo-Logik der Geschichte bei Hans Urs von Balthasar. Zur Systematik und Aktualität seiner frühen Schrift „Theologie der Geschichte“, Hamburg 2004).