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In Respekt vor der Würde der Person
Wie ist die Haltung der Toleranz mit dem Absolutheitsanspruch Christi und seiner Kirche vereinbar? (1995)

Josef Spindelböck

Das Jahr 1995 wurde von den Vereinten Nationen (UNO) zum „Jahr der Toleranz“ erklärt. Das Wort „Toleranz“ ist ein derart schillernder Begriff, daß er nicht unbesehen übernommen werden kann.[1] Daher stellt sich die Frage: Inwieweit haben Begriff und Haltung der Toleranz für den katholischen Christen Bedeutung und Berechtigung?

Aufgrund der Nominaldefinition (also der Erklärung einer Sache von ihrem Namen her) kann man das Fremdwort „Toleranz“ (von lateinisch „tolerare“: ertragen, erdulden) mit „Duldsamkeit, Verständnis, Offenheit, Achtung und Respekt“ übersetzen und umschreiben.

Was ist recht verstandene Toleranz?

Im folgenden soll der Begriff der Toleranz als jene seelische und sittliche Haltung noch genauer bestimmt werden, die ein Katholik haben soll, der ohne Abstriche an der Wahrheit des geoffenbarten Glaubens festhält und der eben deshalb auch die Personwürde des Nächsten unbedingt achtet.

a) Zu allererst geht es bei recht verstandener Toleranz um die Achtung der Würde des anderen Menschen und seiner leiblichen und seelischen Unversehrtheit (Integrität), also um eine Grundbedingung jedes Zusammenlebens in Familie, Staat und Gesellschaft. Daher sind Mord und körperliche wie seelische Gewalttätigkeit als Unrecht abzulehnen und zu verurteilen. Gegen die Achtung der Menschenwürde verstößt auch, wer einen anderen Menschen zur Sünde verführt, indem er ihm Ärgernis gibt. Jesu Worte sind hart: „Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals im tiefen Meer versenkt würde!“[2]

b) Toleranz umfaßt weiters die Anerkennung der Andersartigkeit des Mitmenschen als bereicherndes Element des Zusammenlebens. Hier gilt das Prinzip der gegenseitigen Ergänzung, der sozialen Komplementarität. Der Fremde darf nicht aufgrund seiner Verschiedenartigkeit abgelehnt werden. Die Übung der Gastfreundschaft galt als besondere Tugend der ersten Christen, die ihnen zu gesellschaftlicher Achtung verhalf und dem Glauben an Jesus viele neue Mitglieder zuführte: „Gewährt jederzeit Gastfreundschaft!“[3] Als Christen haben wir uns auch heute selbstkritisch zu fragen: Wie sieht unsere Haltung gegenüber Flüchtlingen und Ausländern sowie überhaupt zu Fremden aus?

c) Toleranz verlangt die Achtung des anderen, auch wenn er andere Meinungen und überzeugungen vertritt[4], besonders in Sachen des Glaubens und in weltanschaulichen Fragen. Dieser Respekt gilt eigentlich der Person des anderen und seinem Gewissen, das immer auf die Suche und den Besitz der Wahrheit hingeordnet bleibt. Nur dieser Respekt vor der Wahrheitssuche des anderen vermag ihn hinzuführen zur freien Annahme der Wahrheit. Diese kann nicht das Ergebnis von Überredung und Zwang, sondern nur einer geduldigen Auseinandersetzung und ehrlichen Überzeugung sein. Die Wahrheit setzt sich durch kraft ihrer selbst. Denn „anders erhebt die Wahrheit nicht Anspruch als kraft der Wahrheit selbst, die sanft und zugleich stark den Geist durchdringt.“[5]

d) So ist also der Verzicht auf gewaltsame oder unredliche „Bekehrung“ des anderen zu einer Religion oder einem weltanschaulichen bzw. politischen System nötig. Für derartige Unternehmungen wird mitunter das Wort „Proselytismus“ verwendet. Selbstverständlich ist damit die katholische Mission nicht betroffen, die sich gemäß ihren Grundsätzen auf den Respekt vor dem Wirken Gottes im Gewissen eines jeden Menschen gründet, dem sie die Wahrheit Christi zur freien, jedoch nicht unverbindlichen Annahme darbietet.[6]

e) Die Bereitschaft zum Gespräch (Dialog) mit Andersdenkenden und zur Zusammenarbeit in gemeinsamen Anliegen sind für das friedliche Zusammenleben in Staat und Gesellschaft im Interesse des Gemeinwohls unbedingt notwendig. Fehlen Bemühungen in dieser Richtung, so ist ein Keim für sozialen Unfrieden, Unruhen und womöglich sogar für Bürgerkrieg gelegt. All das aber muß geschehen ohne das Aufgeben der erkannten Wahrheit des Glaubens, womit schon die Fehlformen von Toleranz angesprochen sind.

Was ist falsche Toleranz?

a) Eine Form falscher Toleranz ist heute oft anzutreffen. Sie ist der theoretisch kaum hinterfragte, praktisch aber häufig gelebte Verzicht auf die eigene Überzeugung, das „Mitläufertum“. In diesem Sinn ist der Spruch wahr: „Das Böse ist deshalb so mächtig, weil die Guten zu feige sind.“ Die Kirche erwartet gerade nicht jene unmündige Form von Untertänigkeit und knechtischem Gehorsam gegenüber ihrer im Namen Gottes ausgeübten Autorität und Lehre, wie sie bei „Massenmenschen“ anzutreffen ist. Gott setzt auf den freien und verantworteten Gehorsam des Glaubens, wie er der menschlichen Person als Abbild Gottes zusteht: „Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe.“[7]

b) Der Relativismus der Wahrheit zeigt sich häufig als ethisch-religiöser Indifferentismus: Alle Aussagen werden als „gleich gültig“ angesehen, woraus nicht selten eine an der objektiven Wahrheit uninteressierte „Gleichgültigkeit“ folgt. Die Haltung der Postmoderne ist dieses Nebeneinander-Stehenlassen verschiedener, einander widersprechender Werthaltungen und Lebensmodelle auch ethisch-religiöser Natur. Jeder Verbindlichkeitsanspruch wird abgelehnt. Im Gegensatz dazu sagt Jesus von sich: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater außer durch mich“.[8] An diesem Absolutheitsanspruch nimmt auch die von Jesus Christus gestiftete Kirche teil. Daher gilt in einem richtigen Verständnis wirklich: „Außerhalb der Kirche kein Heil“[9]!

c) Wer den Verzicht auf die Mitteilung der erkannten Wahrheit an andere zu seinem Lebensprogramm erhebt, wird zwar ein bequemeres Leben führen können, doch nicht die eigentliche Erfüllung im Leben finden. „Denn die Liebe Christi drängt uns“[10], das Geschenk des Glaubens mit anderen zu teilen und dafür Zeugnis zu geben. Die Märtyrer der Kirche geben für die Wahrheit des Glaubens ihr eigenes Leben hin[11], im Unterschied zu religiösen oder politischen Fanatikern, die allzuoft das Leben anderer gering achten und zur Durchsetzung ihrer subjektiven Ideen opfern.

d) Falsch ist auch das Nachgeben um jeden Preis, das heißt, um des Friedens willen im Sinne eines faulen Kompromisses, der nicht das Ergebnis eines gemeinsamen Ringens um die Wahrheit ist, sondern der Verzicht auf den mitunter harten, aber befreienden Anspruch der Wahrheit um untergeordneter Vorteile willen. Jesus sagt, er sei nicht auf die Erde gekommen, „um Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“[12] Sein Wort ruft in die Entscheidung, es ist „kraftvoll und schärfer als jedes zweischneidige Schwert.“[13] So ist Jesus von Gott, seinem Vater, gesetzt zum „Zeichen ..., dem widersprochen wird. Dadurch sollen die Gedanken vieler Menschen offenbar werden.“[14] Gerade die Hirten der Kirche müssen gegenüber Gefahren, die den Gläubigen durch falsche Propheten und Lehren drohen, wachsam und abwehrbereit sein. Hier zu schweigen, hätte mit recht verstandener Toleranz nichts mehr zu tun.[15]

e) Eine Fehlform der Toleranz unternimmt schließlich nichts gegen eine durch den unkritischen Einsatz der Massenmedien geförderte Verwirrung und Unklarheit der Begriffe. Ein Beispiel dafür ist die irreführende Verwendung des Wortes „Schwangerschaftsabbruch“ oder gar „Schwangerschaftsunterbrechung“, wo es in Wirklichkeit doch um die Tötung (wenn bewußt und willentlich: um den Mord) des ungeborenen Kindes im Mutterschoß durch Abtreibung oder nidationshemmende Mittel geht.

Gewissen und Gewissensfreiheit

Es gibt etwas, das alle Menschen unabhängig von ihrer religiösen oder weltanschaulich-politischen Überzeugung vereint – nämlich das Gewissen, das von seinem Wesen her auf die Erkenntnis der Wahrheit ausgerichtet ist. Wenn also zwei Menschen mit verschiedenen Standpunkten ehrlich die Wahrheit suchen, so kommen sie einander immer näher! Der berühmte englische Konvertit John Henry Kardinal Newman (+1890) schreibt über den Gehorsam gegenüber dem Gewissen: „So werden Geister, die von verschiedenen, aber jedenfalls redlichen Ausgangspunkten herkommen, im Laufe der Zeit auf eine und dieselbe Wahrheit hin konvergieren.“[16]

Nach der Lehre der Päpste und des letzten Konzils ist das Gewissen das innerste Heiligtum jedes Menschen, wo er allein ist mit seinem Schöpfer. Es lehrt ihn, das Gute zu lieben und zu tun und das Böse zu hassen und zu meiden.[17] Freilich ist es eine Anlage, die entwickelt werden muß. Daher ist die Gewissenbildung durch richtige Erziehung und Selbst-Erziehung eine sittliche Grundpflicht für jeden Menschen.

Bezüglich des Gewissens hat jeder Mensch eine Pflicht: Er soll in sittlichen und religiösen Dingen die Wahrheit suchen und an ihr festhalten, sobald er sie erkannt hat.[18] Dem entspricht ein Recht: Er darf bei der Suche nach dieser Wahrheit nicht von anderen gezwungen werden, da er die Wahrheit des Glaubens in Freiheit annehmen soll. Diese recht verstandene Gewissens- und Religionsfreiheit wird von der Würde der Person verlangt.[19]

Dogma und Toleranz

“Dogmen, feste Überzeugung, Gewißheit führen nicht von sich aus zur Intoleranz.“[20]Oft aber bewirkt die Relativierung absoluter Wahrheit Intoleranz. Insofern kann der Papst mit Recht von der Gefahr eines totalitären Demokratismus sprechen, wenn Mehrheit statt Wahrheit zum Prinzip sozialen Lebens erhoben wird: „Es stimmt, daß die Geschichte Fälle kennt, in denen im Namen der ‚Wahrheit‘ Verbrechen begangen worden sind. Aber nicht minder schwere Verbrechen und radikale Leugnungen der Freiheit wurden und werden weiter auch im Namen des ‚ethischen Relativismus‘ begangen. Faßt eine parlamentarische oder gesellschaftliche Mehrheit, wenn sie die Rechtmäßigkeit der unter bestimmten Bedingungen vorgenommenen Tötung des ungeborenen menschlichen Lebens beschließt, nicht vielleicht einen ‚tyrannischen‘ Beschluß gegen das schwächste und wehrloseste menschliche Geschöpf? Das Weltgewissen reagiert mit Recht auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, mit denen unser Jahrhundert so traurige Erfahrungen gemacht hat. Würden diese Untaten vielleicht nicht mehr länger Verbrechen sein, wenn sie, statt von skrupellosen Tyrannen begangen worden zu sein, durch des Volkes Zustimmung für rechtmäßig erklärt worden wären?“[21]

Gerade im Bereich der Toleranz bewahrheitet sich das Wort Christi von der Wahrheit, die freimacht.[22] Die letzte Verankerung recht verstandener und gelebter Toleranz kann freilich nur in der christlichen Liebe gefunden werden: „Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. Also ist die Liebe die Erfüllung des Gesetzes.“[23]

 


[1] Die geschichtliche Verwendung des Toleranzbegriffs schwankt zwischen einer Haltung, die dem Selbstverständnis der katholischen Kirche entspricht und einem kirchenfeindlichen Toleranzverständnis (vgl. Joseph Lecler, Toleranz. Geschichtlich, in: LThK2, Bd 10, 239–242). Die Kirche hat sich den Begriff auf verschiedene Weise zu eigen gemacht, je nachdem, was damit gemeint war (vgl. Henry de Riedmatten/Johannes Feiner, Toleranz. Systematisch, in: ebd., 242–246).

[2] Mt 18,6.

[3] Röm 12,13b.

[4] Vgl. Katholischer Erwachsenenkatechismus. Zweiter Band: Leben aus dem Glauben, Freiburg 1995, 141. Treffend heißt es ebd., 454: „In der Haltung der Toleranz gibt der Christ keineswegs die im Glauben erkannte Wahrheit auf, aber er respektiert die Würde der Person des anderen in dessen persönlicher Überzeugung, die er selbst nicht teilt.“

[5] 2.Vatikanisches Konzil, Erklärung über die Religionsfreiheit „Dignitatis humanae“ (= DH), Nr. 1.

[6] Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche (= KKK), Nr. 856. Fälschlicherweise sehen viele heute schon im „Aufruf zur Bekehrung, den die Missionare an Nicht-Christen richten ... einen Akt des Proselytismus; man sagt, es genüge, den Menschen zu helfen, mehr Mensch zu werden oder der eigenen Religion treuer zu sein; man sagt, es genüge, Gemeinschaften ins Leben zu rufen, die fähig seien, für Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden und Solidarität einzutreten. Aber man vergißt dabei, daß jeder Mensch das Recht hat, von der ‚guten Nachricht‘ Gottes zu hören, der sich in Christus offenbart und schenkt; so erst kann der Mensch seine eigene Berufung voll verwirklichen.“ (Johannes Paul II., Enzyklika „Redemptoris missio“ vom 7.12.1990, Nr. 46)

[7] Joh 15,15.

[8] Joh 14,6.

[9] Vgl. zum richtigen Sinn dieser Formel: KKK 846 ff. Denn damit wird jenen, die Christus und die Kirche ohne ihre Schuld nicht (aner-)kennen, die Möglichkeit des Heils nicht abgesprochen.

[10] 2 Kor 5,14a.

[11] Zu ihrer Würdigung vgl. Johannes Paul II., Enzyklika „Veritatis splendor“ vom 6.8.1993, Nr. 90–94.

[12] Mt 10,34.

[13] Hebr 4,12.

[14] Lk 2,34b.35.

[15] Vgl. Ez 33,1–9 (über das Wächteramt) und Ez 34 (über die Hirten) sowie Joh 10,1–18 (Jesus als guter Hirte).

[16] John Henry Newman, Über die Entwicklung der Glaubenslehre, in: Ausgewählte Werke, Bd 8, Mainz 1969, 312; vgl. die instruktive Studie von Hermann Geißler, Gewissen und Wahrheit bei John Henry Newman, Frankfurt 1992, 221ff.

[17] Vgl. 2. Vatikanisches Konzil, „Gaudium et spes“, Nr. 16; KKK 1776.

[18] Vgl. DH 1.

[19] Vgl. DH 2. Ein falsches Verständnis von Religionsfreiheit sieht diese bloß in ihrer „negativen“ Seite, d.h. in der Freiheit von religiösem Zwang. Die Religionsfreiheit findet ihren vollen Sinn aber nur unter Würdigung ihres „positiven“ Aspekts: Die Freiheit zur Religionsausübung gläubiger Menschen ist auch von Andersgläubigen und Ungläubigen zu respektieren. Leider hat dies das deutsche Bundesverfassungsgericht in seinem „Kreuz-Urteil“ ignoriert.

[20] Andreas Laun, Die Gewissensfreiheit nach dem 2. Vatikanischen Konzil, in: ders., Fragen der Moraltheologie heute, Wien 1992, 174.

[21] Johannes Paul II., Enzyklika „Evangelium vitae“ vom 25.3.1995, Nr. 70.

[22] Vgl. Joh 8,32.

[23] Röm 13,10; vgl. 1 Kor 13 (das Hohelied der Liebe).