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Der Praxisbezug des christlichen Glaubens und der Anspruch sittlicher Rationalität

Josef Spindelböck

Hinführung zum Problem

In Zusammenhang mit der neuzeitlichen Ausdifferenzierung der Wissenschaften als solche und insbesondere mit der Entwicklung und Spezialisierung des theologischen Fächerkanons ist auch die Moraltheologie als eigenständige und doch in ihrem inneren Bezug auf das Gesamt der Theologie verwiesene Disziplin ins Dasein getreten. Die Fülle neuer Probleme und Fragestellungen sowie die Notwendigkeit einer methodisch und didaktisch geordneten Organisation des Studiums der Theologie hatte diese Verselbstständigung auch jenes Bereichs als nötig bzw. angemessen erscheinen lassen, den wir mit dem Namen „Moraltheologie“ (theologia moralis) bezeichnen.[1]

Die klassische Bezeichnung für dieses Fach (nämlich „Moral-Theologie“) ist gleichsam Programm: Insgesamt bemüht sich die Theologie um das wissenschaftlich verantwortbare Reden von Gott, und zwar unter der Voraussetzung, dass Gott selbst zum Wort für uns geworden ist und sich uns mitgeteilt hat in seinem Sohn Jesus Christus. Theologie darf in ihrem Selbstverständnis nicht nur die Rede über Gott sein, sondern muss in gewissem Sinn auf der Rede Gottes zu uns gründen und antwortend eintreten in diesen Dialog, den Gott mit den Menschen eröffnet hat. Dabei geht es in der Moraltheologie um die sittlichen Aspekte des Glaubens, also um das Leben aus dem Glauben bzw. um dessen Bewährung in gelebter christlicher Praxis.[2]

„Praxis“ wird im Rahmen der folgenden Ausführungen als bewusstes und freiwilliges Handeln des Menschen sowohl in individueller als auch in sozialer Perspektive verstanden, mit Einschluss der im Inneren der Person vollzogenen Entscheidungen, insofern sich diese dann auch nach außen hin auswirken. Auf das „zweckfreie Handeln“ im kultischen Ausdruck wird hier mit dem Begriff „Praxis“ nicht ausdrücklich reflektiert, sondern es geht um das Entscheiden und Handeln in sittlicher Perspektive, d.h. im Verantwortungsbezug.

Freilich ist eine Trennung von Glaube und Handlung, wie sich zeigen wird, vom Ansatz her problematisch. Es geht vielmehr um eine richtungweisende Unterscheidung im Bewusstsein dessen, dass gerade der Glaube und das sittliche Handeln des Christen zusammengehören. Im Hinblick auf den Status der Moraltheologie interessieren hier nicht primär die äußeren, organisatorischen Aspekte, sondern es geht um den inneren Anspruch der Theologie als Glaubenswissenschaft in ihrem Praxisbezug.

1. Glaube und Handeln: ein innerer Zusammenhang

Die Theologie insgesamt und die Moraltheologie im Besonderen hat das Ziel wissenschaftlicher Reflexion über den christlichen Glauben und dessen auch sittliche Lebenspraxis. Dass der Glaube und das sittliche Handeln eine Einheit bilden, leuchtet vom christlichen Standpunkt aus unmittelbar ein, wenigstens im Grundsätzlichen.[3] Dennoch gab und gibt es immer wieder Infragestellungen bzw. extreme Akzentsetzungen, die der Gefahr ausgesetzt sind, das eine zulasten des anderen hervorzuheben bzw. wesentliche Gesichtspunkte zu vernachlässigen.

Eine erste extreme Sichtweise: Ohne den Anspruch zu erheben, die Intentionen Martin Luthers (1483–1546) in ihrer teilweisen Widersprüchlichkeit authentisch zu interpretieren bzw. ihre Wirkungsgeschichte umfassend zu erhellen, kann zumindest soviel gesagt werden: Der Protestantismus besitzt in seiner durch Schlagworte wie „sola fides“, „sola gratia“ und „sola Scriptura“ erhellten Einseitigkeit[4] (welche die Kirche sogar als der Fülle des Glaubens widersprechende selektive Festlegung, eben als „hairesis“ – „Häresie“ bezeichnet hat) die Tendenz, die Bedeutung des sittlichen Handelns zu gering zu veranschlagen und „allein dem Glauben“ Relevanz für das Heil des Menschen zuzuschreiben.[5] Das bei Martin Luther belegbare Diktum „Glaube fest und sündige kräftig!“ weist in diese Richtung.[6] Demnach wäre es für den in einer unaufhebbaren Dialektik des „simul iustus et peccator“ stehenden Menschen einzig wesentlich, sich im unwiderlegbaren Glauben an die Gewissheit des eigenen Heils bedingungslos Jesus Christus anzuvertrauen (Fiduzialglaube).[7] Das demgegenüber auf katholischer Seite herausgestellte Feld der sittlichen Bewährung wurde in der protestantischen Kontroverstheologie häufig unter den Generalverdacht gestellt, man wolle sich die allein durch Gnade („sola gratia“) mögliche Teilnahme am Himmelreich vielleicht durch (abzulehnende) „Werke“ einer pharisäischen „Lohngerechtigkeit“ erkaufen.

Das andere Extrem der Überbetonung oder gar ausschließlichen Hervorhebung des sittlichen Handelns des Christen unter Vernachlässigung vor allem der inhaltlichen Bedeutung des Glaubens wurde (und wird?) durch gewisse Formen der „Politischen Theologie“ bzw. gar einer „Theologie der Revolution“ und in deren Fortführung durch marxistisch inspirierte Richtungen der sog. „Befreiungstheologie“ verwirklicht.[8] Hier stellten manche Vertreter den Grundsatz auf, die sog. „Orthopraxie“ komme vor der „Orthodoxie“, ja sei allein wesentlich: Entscheidend sei also das rechte Handeln und nicht der rechte Glaube.[9]

Es gab und gibt weiters auch „theologische“ Tendenzen, Gott für „tot“ zu erklären[10] bzw. das Mysterium Gottes auf ein „Ereignis“ von „Mitmenschlichkeit“ zu reduzieren.[11] Auf diese Weise ginge die Gottesliebe in der Nächstenliebe auf, und es wäre die alleinige Aufgabe der Theologie nach einer so (miss)verstandenen „anthropologischen Wende“, das innerweltliche, mitunter gewaltsam-revolutionäre Handeln der Christen zu begleiten bzw. vielleicht gar erst im Nachhinein „abzusegnen“. Das „Reich Gottes“ wird in einer solchen Sichtweise fast in eins gesetzt mit dem menschlichen Fortschritt, wie er innerweltlich anzuzielen sei und letztlich auch allein mit menschlichen Kräften erreicht werden könne. [12] Eine solche neopelagianische Sichtweise hat sich wiederholt als realitätsferne Utopie erwiesen, obwohl es fürs Erste den Anschein hatte, als ob durch den Verzicht auf den als rein theoretisch verdächtigen Glauben an Gott ein Zugewinn an Wirklichkeits- und Praxisbezug zu erreichen wäre.

Das 2. Vatikanische Konzil hat im Hinblick auf die nötige Erneuerung der Moraltheologie gefordert, sie solle, „reicher genährt aus der Lehre der Schrift, in wissenschaftlicher Darlegung die Erhabenheit der Berufung der Gläubigen in Christus und ihre Verpflichtung, in der Liebe Frucht zu tragen für das Leben der Welt, erhellen“.[13] Die letzte Feststellung verweist auf den untrennbaren Zusammenhang von Glaube und sittlichem Leben. Es geht in rechtem katholischen Verständnis nicht um „Werk- oder Lohngerechtigkeit“, was letztlich einer Selbsterlösung und Ablehnung der Gnade Christi gleichkäme, sondern im Gegenteil darum, dass der von der Liebe beseelte Glaube im Leben derer wirksam wird, die Christus nachfolgen. Biblisch verweist das Konzilszitat auf das Fruchttragen des guten Baumes (Mt 7,16–19), worauf in der entsprechenden Perikope die Worte Christi von der Notwendigkeit des Tuns des Guten folgen (Mt 7,21.24), bzw. auch auf das Verwurzeltsein des Christen im guten Weinstock, der Christus ist (Joh 15,1–17). Gerade in diesem biblischen Beispiel wird (Joh 15,5) betont, dass der von Christus getrennte Mensch nichts vollbringen kann (was im eigentlichen Sinn primär auf die Heilsrelevanz des menschlichen Tuns zu beziehen ist), während die Jünger Christi „reiche Frucht“ (Joh 15,8) bringen. Die Polemik des Paulus gegen ein isoliertes Festhalten am jüdischen Gesetz richtet sich nicht gegen die wesentlichen sittlichen Weisungen dieses Gesetzes, denn „das Gesetz ist heilig, und das Gebot ist heilig, gerecht und gut“ (Röm 7,12), sondern gegen eine von der Erlösung in Jesus Christus und der Heilsrelevanz des Glaubens absehende Haltung.[14]

Die Einheit von Glaube und sittlich verantwortlichem Handeln wurde in den bisherigen Ausführungen als Konsequenz der Glaubensentscheidung in ihrem personalen und inhaltlichen Anspruch dargestellt. Auch vonseiten der Handlungstheorie verschiedener Disziplinen gibt es Versuche, eine sog. transzendentale Dimension des Handelns aufzuzeigen. So wurde beispielsweise auf den symbolischen Gehalt der Handlung hingewiesen. Dieser bringt einen übergreifenden Sinnzusammenhang zum Ausdruck, in dem jede Handlung steht. Symbole können sprachlich repräsentiert, zeichenhaft oder auch gegenständlich sein.[15] Die Sinnfrage wiederum kapituliert entweder angesichts der Todesfrage oder aber sie öffnet sich in eine Dimension der Transzendenz, was einsichtig macht, dass das Handeln des Menschen gleichsam von sich aus „transzendenzoffen“ sein muss, wenn es die Dimension des wahrhaft Menschlichen auf Dauer nicht verlieren will.[16]

Wie diese Skizze zeigen konnte, führt kein Weg daran vorbei, dass zu einem rechten Verständnis des christlichen Glaubens die vorbehaltlose Bejahung des inneren Zusammenhangs von Glaube und sittlichem Handeln gehört.[17]

2. Glaube und Vernunft: eine gegenseitige Durchdringung (Perichorese)

Wir wollen in einem zweiten Schritt unserer Überlegungen das Verhältnis von Glauben und Vernunft ansprechen. Provokant formuliert könnte man fragen: Wie viel Vernunft verträgt unser Glaube? Hinter einer derart ausgedrückten Problematisierung steht die Urangst bzw. der Verdacht, der christliche Glaube sei letztlich nicht wahrheitsfähig und nichts anderes als eine Ideologie, er sei eben nur „Glaube“ im landläufigen Sinn als Ausdruck des „Nicht-Wissens“, des bloßen Meinens und Vermutens, eben eine „fromme Einbildung“. Wo es dann zur „Aufklärung“ im Sinne Kants kommt[18], fällt ein so verstandener Glaube von selbst weg. Er ist in seinem Ungenügen und Unvermögen durchschaut und weicht dem „Wissen“.

Es mag manche überraschen, wenn sich die katholische Kirche gerade in ihrem höchsten Repräsentanten auf Erden, dem gegenwärtigen Papst Benedikt XVI., ohne Einschränkung zur „Vernünftigkeit des Glaubens“ bekennt. Dieses Anliegen zu verdeutlichen war die Intention der teilweise missverstandenen „Regensburger Rede“, in welcher Benedikt – in Bezugnahme auf den Dialog des gelehrten byzantinischen Kaisers Manuel II. Palaeologos mit einem gebildeten Perser über Christentum und Islam, wohl im Jahr 1391 im Winterlager zu Ankara – zustimmend zitiert: „nicht vernunftgemäß, nicht ‚σὺν λόγω‘ zu handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider.“[19] Freilich verbindet sich mit einer so positiven Aussage über die Vereinbarkeit von Glauben und Vernunft eine von Benedikt XVI. propagierte Öffnung des Begriffs der Vernunft, die nicht mehr nur als instrumentelle oder technische Vernunft verstanden werden darf, sondern als „Sinnvernunft“, welche fähig ist zur Erkenntnis der Wahrheit in den wesentlichen Fragen, die den Ursprung, das Ziel und den Sinn des Menschen und seiner Existenz betreffen. Diese nicht verkürzte Vernunft besitzt von ihrem Wesen her eine Offenheit für die Transzendenz Gottes, wenn sie auch an das eigentliche Geheimnis Gottes nicht zu rühren vermag. Was und wer Gott wirklich ist, kann der Mensch tatsächlich nicht durch Spekulation erschließen, sondern nur auf das Wort Gottes hin im Glauben demütig annehmen.[20]

Die Aufgabe einer wissenschaftlichen Theologie bzw. in gewissem Sinn auch einer für den universalen Horizont der Wahrheit offenen Philosophie im Bereich der sog. „praeambula fidei“ ist es aufzuzeigen, dass der Glaube an den sich offenbarenden Gott und das Festhalten an der offenbarten Wahrheit kein Abschiednehmen von der Vernunft bedeuten, sondern dass dieser Glaube dem tiefsten Anspruch der Vernunft genügt, ja diesen sogar übertrifft. Ein derartiger, im Bereich der Fundamentaltheologie zu führender „Nachweis“ kann und will freilich den christlichen Glauben niemandem „andemonstrieren“, sondern nur die Voraussetzungen aufzeigen, unter denen der „Gehorsam des Verstandes und Willens“ gegenüber dem sich offenbarenden Gott auch rational gerechtfertigt werden kann. Dabei zeigt sich bereits, dass es bei einer solchen „Rechtfertigung“ des christlichen Glaubens vor dem Anspruch der Vernunft nicht um ein bloß intellektuelles Unternehmen geht, sondern dass hier die Praxisrelevanz des christlichen Glaubens, d.h. der Glaube in seiner Vollgestalt, welche die sittliche Bewährung mit einschließt, wesentlich ist. Umgekehrt wird nicht eine „kalte Vernunft“ die Möglichkeit und Sinnhaftigkeit des Glaubensaktes bejahen können, sondern nur eine für die Erfahrung der Liebe geöffnete Vernunft, auch im Sinn des Diktums von Hans Urs von Balthasar: „Glaubhaft ist nur Liebe.“[21]

Wer aber von Gott der Gnade gewürdigt wird, im Binnenraum des christlichen Glaubens zu stehen, wird stets neu auf den Einsatz seiner menschlichen Kräfte verwiesen. Glauben bedeutet nicht ein passives und fatalistisches Sichergeben in den Willen Gottes, sondern gerade im Glaubensgehorsam liegt ein unerschöpfliches Potenzial an Aktivität, eine Dynamik, die gleichsam von selber zur Tat der Liebe drängt. Dabei ist der Beitrag der Vernunft unverzichtbar. Diese Mitwirkung des Menschen ist nicht als „Zusatz von außen her“ zu sehen, sondern als eine durch den Glaubensakt bewirkte Weitung und Wandlung der Vernunft von innen her zu verstehen. Die durch den Glauben erleuchtete Vernunft sucht nach einem tieferen Verständnis des Geglaubten („fides quaerens intellectum“), ohne dass sich dadurch das Mysterium im eigentlichen Sinn aufheben ließe. Sie fragt im Sinne des biblischen Gleichnisses vom guten Baum, der gute Früchte bringt (Mt 7,16–19), nach den praktischen Konsequenzen des Geglaubten für das christliche Leben. Wenn dies im Rahmen der Theologie als Glaubenswissenschaft geschieht, verwirklicht sich der Auftrag der Moraltheologie.[22]

Präziser als im Sinn einer bloßen Hinzufügung lässt sich darum das Verhältnis von Glauben und Vernunft mit dem aus der Trinitätslehre vertrauten Begriff der „Perichorese“, also der gegenseitigen Durchdringung beschreiben.[23] Ohne diesen Begriff als solchen zu verwenden, hat Johannes Paul II. in „Fides et ratio“ ausgeführt: „Es gibt also keinen Grund für das Bestehen irgendeines Konkurrenzkampfes zwischen Vernunft und Glaube: sie wohnen einander inne, und beide haben ihren je eigenen Raum zu ihrer Verwirklichung.“[24]

Weder verliert der Glaube etwas, indem er sich mit der Vernunft verbindet, noch gibt die Vernunft ihre Vernünftigkeit auf, wenn sie sich vom Glauben „erleuchten“ lässt. Es verwirklicht sich vielmehr eine innere Durchdringung und Teilhabe beider aneinander. Dies gilt insbesondere für die Vollgestalt des Glaubens, welche im Gegensatz zu einem „toten“ Glauben ihre lebendige und eschatologisch hoffnungsvolle Wirksamkeit erweist in Werken der Liebe. Der Glaubende handelt nicht unvernünftig, sondern aus der inneren Logik einer Liebe, die sich bedingungslos hingibt und verschenkt, weil Gott selber Liebe ist und sich uns Menschen als Liebe offenbart und mitgeteilt hat (vgl. 1 Joh 4,8.16). Eine bloße „Weltweisheit“ vermag freilich diese höhere Logik der göttlichen Vernunft, an der der Glaubende partizipiert, nicht einzuholen und wird diese daher in einem Standpunkt „von außen“ nur als „Torheit“ anzusehen vermögen (vgl. 1 Kor 1,18–21).

3. Glaubenspraxis und Kommunikabilität: ein stets neu einzulösender Anspruch

Die zuvor angeführte Feststellung des Apostels Paulus, dass die nicht an Christus glaubende „Welt“ gleichsam nicht einzusehen vermag, von welcher Hoffnung aus dem Glauben die Christen erfüllt sind und was sie zuinnerst in ihrem Leben und Handeln bewegt, lässt uns fragen, wie denn der Anspruch des christlichen Glaubens im Hinblick auf eine universale und rationale Kommunikabilität seiner Praxis unter den Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft überhaupt einzulösen sei.[25]

Auch wenn dem Christen gleichsam „mehr Licht“ geschenkt ist (durch den Glauben an den sich offenbarenden Gott), so lebt er doch nicht in einer religiösen Sonderwelt, und man würde den christlichen Anspruch gründlich missverstehen und ins sektenhaft Ideologische verzerren, wenn dieser nur um den Preis eines Verzichts auf das genuin Menschliche zu verwirklichen wäre.

Der christliche Glaube ist zwar in seinem tiefsten Wesen (was auch das Handeln aus dem Glauben betrifft) und in seinen Gründen „von außen“ her nicht einzuholen (eben darum spricht Paulus in 1 Kor 2,15 auch davon, dass „der geisterfüllte Mensch über alles urteilt, ihn aber niemand zu beurteilen vermag“), doch gibt es Brücken und Verbindungslinien, welche aufzeigen, dass der Christ nicht ein Weniger an Menschsein verwirklicht, sondern in der Verbindung mit Jesus Christus zur Fülle seines Menschseins zu finden vermag.[26]

Weder soll hier also einer in sich abgeschlossenen „Glaubensmoral“ das Wort geredet werden, noch einer rationalistisch für Höheres verschlossenen, sich auf die (angebliche) Vernunft, auf einen wirklichen oder vermeintlichen „Nutzen“ oder auf ein bloßes Gefühl des Glücks berufenden „autonomen“ Ethik Raum gegeben werden. Entsprechend den vorher gemachten Ausführungen kann es in der Art und Weise, wie der Christ in Wort und Tat Rechenschaft ablegt von der Hoffnung, die ihn erfüllt (vgl. 1 Petr 3,15), weder um eine ungeschichtlich-abstrakte Beschränkung auf den „bloßen Glauben“ noch auf die „reine Vernunft“ gehen. Der Christ muss vielmehr „ganzheitlich“ Zeugnis ablegen für Gottes Liebe und für das durch diese ermöglichte erfüllte Menschsein in der Perspektive des ewigen Heils. Die naturrechtliche Argumentation, die immer wieder nötig ist – sowohl im Grundsätzlichen als auch in Einzelfragen –, bedarf der stets neuen „Heimholung“ in den Binnenraum des Glaubens, um nicht zu einem Fremdkörper im Leben des Christen zu werden bzw. um nicht den falschen Eindruck bei Nichtglaubenden oder Andersgläubigen zu erwecken, der christliche Glaube sei ohnehin nichts anderes als bloße (natürliche) „Moral“.[27]

Was aber besagt die Rede vom „natürlichen Sittengesetz“ eigentlich? Im Grund geht es theologisch gedeutet um nichts anderes, als dass der Mensch in seiner natürlichen und damit kreatürlichen Verfasstheit „sich selbst Gesetz“ ist, wie es Paulus im Römerbrief formuliert.[28] Dieses biblische Autonomieverständnis gründet in der dem Menschen von Gott geschenkten Gottebenbildlichkeit, d.h. dem Menschen als Krone der sichtbaren Schöpfung ist von Gott das Gesetz seiner Entfaltung und Vollendung gleichsam „von Natur aus“ mitgegeben. Thomas von Aquin hat in diesem Zusammenhang von den „natürlichen Neigungen“ („inclinationes naturales“) gesprochen, die der Mensch in ihrer Zielbezogenheit anerkennen und vernunftgemäß ordnen soll, um daraus die einzelnen sittlichen Gebote abzuleiten.[29] Das im Alten und Neuen Bund geoffenbarte übernatürliche Sittengesetz, welches der Sache nach und in normativer Hinsicht in wesentlichen Punkten mit dem natürlichen Sittengesetz identisch ist, erweist sich in dieser Sichtweise nicht als Fremdbestimmung (Heteronomie), sondern als Anerkennung einer recht verstandenen Autonomie, ja als deren tiefste Ermöglichung.

Konkret existiert nicht der rein „natürliche“ Mensch, sondern immer nur der Mensch in der Hinordnung auf die übernatürliche Gemeinschaft mit Gott in Jesus Christus. Von daher ist die Rede vom natürlichen Sittengesetz eine Abstraktion, die jedoch notwendig und hilfreich ist, um die Zusammenhänge besser zu verstehen und den Dialog auch mit Nichtglaubenden und Andersglaubenden zu ermöglichen und zu führen. Die Hereinnahme des natürlichen Sittengesetzes in die übernatürliche Ordnung der Gnade und der Gebote Gottes, welche sich in der göttlichen Tugend und im darauf bezogenen Doppelgebot der Liebe vollendet, nimmt dem Natürlichen nichts von seiner Bedeutung und seinem Wert. Wohl aber erhebt die Gnade die Natur, vollendet und veredelt sie gleichsam, wie das scholastische Axiom kundtut („gratia supponit naturam et elevat eam“).[30]

Der christliche Glaube ist also auch in seinem Praxisbezug und in seiner Handlungsrelevanz primär ein Geschenk, das es dankbar zu empfangen und zu bezeugen gilt. Erst wenn dies anerkannt ist, macht es Sinn, von sittlichen Geboten und Verboten zu sprechen. Die normative Dimension des christlichen Glaubens gründet im neuen Sein des Christen, im neuen Leben mit und in Jesus Christus. Christliche Moral ist primär eine Ethik des Könnens, erst dann eine Ethik des Sollens. Genau dies hatten schon die Kirchenväter und auch Thomas von Aquin klar erkannt.[31] Es kam allerdings durch eine voluntaristisch-rechtliche Vereinseitigung im Gefolge des Nominalismus sowie im neuzeitlichen Rationalismus zu einer isolierten Betonung des normativen Aspekts.[32]

Die eschatologische Perspektive des christlichen Glaubens und Handelns stellt schließlich den Verheißungscharakter der christlichen Berufung heraus. Sowohl der erinnernd-vergegenwärtigende Blick auf Gottes Großtaten in der Geschichte, als auch die Solidarität mit allen unschuldig Leidenden in einer „memoria passionis“ als Ausdruck einer menschlich nicht einzulösenden, aber von Gott erhofften letzten Gerechtigkeit machen das sittlich verantwortliche Handeln aus dem Glauben zu einer im besten Sinn des Wortes apologetischen Grundfigur, da hier glaubhaft Rechenschaft gegeben wird von einer Hoffnung, die nur Gott selber einlösen und erfüllen kann.[33]

Abschließende Bemerkungen

Blaise Pascal spricht in seinem Hauptwerk (Le Coeur et ses Raisons. Pensées) in pointierter Weise von einer „Logik des Herzens“ („logique du coeur“).[34] Das Herz hat nach Pascal seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt.[35] Nun ist dies gewiss einseitig. Wir können richtiger sagen: Der Glaube übersteigt seinem Wesen nach die Gründe, welche die Vernunft kennt und anbietet. Dennoch ist er nicht irrational, sondern bleibt als Antwort des Menschen „in statu viae“ auf Gottes Offenbarung verwiesen auf die menschliche Vernunftfähigkeit. Daran partizipiert auch das sittliche Handeln des Christen, das als solches zwar aus den Quellen des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe im Herzen des Menschen hervorgeht, aber wesentlich im Einklang steht mit den anthropologischen Voraussetzungen, wie sie nun einmal dem Menschen als „animal rationale“ zu eigen sind. Das Zeugnis des gelebten Glaubens vermag auch noch nicht glaubenden, aber suchenden Menschen zu helfen, die dem Glauben eigene Logik zu entdecken und die „Weisheit Gottes“ als nicht im Widerspruch zu den Forderungen einer universalmenschlichen Vernunft stehend zu akzeptieren.

Das Anliegen dieser Ausführungen können jene Worte, die Papst Benedikt XVI. bei seiner Messfeier in Mariazell am 08.09.2007 in der Predigt ausgesprochen hat[36], zusammenfassen:

„Auf Christus schauen!“ Wenn wir das tun, dann sehen wir, dass das Christentum mehr und etwas anderes ist als ein Moralsystem, als eine Serie von Forderungen und von Gesetzen. Es ist das Geschenk einer Freundschaft, die im Leben und im Sterben trägt: „Nicht mehr Knechte nenne ich euch, sondern Freunde“ (vgl. Joh 15,15), sagt der Herr zu den Seinen. Dieser Freundschaft vertrauen wir uns an. Aber gerade weil das Christentum mehr ist als Moral, eben das Geschenk einer Freundschaft, darum trägt es in sich auch eine große moralische Kraft, deren wir angesichts der Herausforderungen unserer Zeit so sehr bedürfen. Wenn wir mit Jesus Christus und mit seiner Kirche den Dekalog vom Sinai immer neu lesen und in seine Tiefe eindringen, dann zeigt sich eine große, gültige, bleibende Weisung. Der Dekalog ist zunächst ein Ja zu Gott, zu einem Gott, der uns liebt und uns führt, der uns trägt und uns doch unsere Freiheit lässt ja, sie erst zur Freiheit macht (die ersten drei Gebote). Er ist ein Ja zur Familie (4. Gebot), ein Ja zum Leben (5. Gebot), ein Ja zu verantwortungsbewusster Liebe (6. Gebot), ein Ja zur Solidarität, sozialen Verantwortung und Gerechtigkeit (7. Gebot), ein Ja zur Wahrheit (8. Gebot) und ein Ja zur Achtung anderer Menschen und dessen, was ihnen gehört (9. – 10. Gebot). Aus der Kraft unserer Freundschaft mit dem lebendigen Gott heraus leben wir dieses vielfältige Ja und tragen es zugleich als Wegweisung in diese unsere Weltstunde hinein.

 

 


 

[1] Die Moraltheologie („theologia moralis“) als eigenständige Disziplin der theologischen Wissenschaft verdankt sich – formal und organisatorisch betrachtet – im Wesentlichen der nach dem Konzil von Trient durchgeführten Studienreform. Das inhaltliche Anliegen wurde freilich auch vorher schon im Rahmen des Gesamts der Theologie wahrgenommen (z.B. bei Thomas von Aquin in STh I-II und II-II). Vgl. Louis Vereecke, Da Guglielmo d’Ockham a sant’ Alfonso de Liguori. Saggi di storia della teologia morale moderna 1300–1787, Milano 1990, 643–656 („Il concilio di Trento e l’insegnamento della teologia morale“).

[2] Der Begriff „Praxis“ hat in der Geschichte einen gewissen Bedeutungswandel erfahren: Aristoteles stellte das „theoretische Leben“ der Philosophen (bios theoretikos) einem „praktischen Leben“ (bios praktikos) der politisch Verantwortlichen entgegen (EN, X 6–9, 1176 a30 – 1179 a33) und unterschied davon nochmals das handwerklich-technische Wissen und Können des Künstlers (poiesis, vgl. EN VI 4, 1140 a1-a24). Kant sah für jede Praxis eine Theorie als Voraussetzung, betonte also den Primat des Theoretischen. Hingegen stellte der Marxismus die Praxis als schlechthin dominanten Begriff bei der Interpretation aller menschlichen Vollzüge heraus und insofern auch als primär gegenüber jeder Theorie, der unabhängig von der Praxis kein Wahrheitsgehalt zukomme. Vgl. Günther Bien, Praxis, in: Gerfried Hunold (Hg.), Lexikon der christlichen Ethik (Lexikon für Theologie und Kirche kompakt), Bd 2, Freiburg 2003, 1422–1423.

[3] Auch wenn nach Paulus eine Selbstrechtfertigung des Menschen durch „Werke des Gesetzes“ ausgeschlossen ist, gilt dennoch, dass der rechtfertigende Glaube an Jesus Christus auch praktisch wirksam wird: „Denn in Christus Jesus kommt es nicht darauf an, beschnitten oder unbeschnitten zu sein, sondern darauf, den Glauben zu haben, der in der Liebe wirksam ist.“ (Gal 5,6; vgl. Röm 13,8–10). Klar drückt es der Jakobusbrief aus: „Denn wie der Körper ohne den Geist tot ist, so ist auch der Glaube tot ohne Werke.“ (Jak 2,26)

[4] Vgl. Notger Slenczka, Reformatorische Prinzipien, in: Evangelisches Kirchenlexikon. Digitale Ausgabe 2003/2004, 11029 (vgl. EKL Bd. 3/9, Göttingen 1985–1997, 1504), online.

[5] Luther schließt das Tun des sittlich Guten nicht aus und anerkennt „gerechte Werke“ als Folge der Rechtfertigung durch den Glauben: „Nicht wenn wir gerechte Werke tun, werden wir nämlich gerecht gemacht, sondern (umgekehrt) wenn wir gerecht sind, tun wir gerechte Werke. Also rechtfertigt allein die Gnade.“ – Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516), in: Gesammelte Werke, 523 (vgl. Luther-W Bd. 1, 151), online . Luther gibt selbst zu, dass sich in Röm 3,28 das „sola“ nicht findet, wenn er die Rechtfertigung durch den „Glauben allein“ vertritt; er hält die interpretative Ausweitung aber für sachlich berechtigt und der Intention des heiligen Paulus entsprechend: vgl. Martin Luther: Ein Sendbrief vom Dolmetschen (1530), in: Gesammelte Werke, 3146 (vgl. Luther-W Bd. 5, 84), ebd.

[6] „Esto peccator et pecca fortiter, sed fortius fide et gaude in Christo, qui victor est peccati, mortis et mundi!“ – Martin Luther, Brief an Philipp Melanchthon vom 1. August 1521, in: WAB 2, 372, Nr. 424, 82–93.

[7] Die Denkfigur des „simul iustus et peccator“ erwies sich im Ringen um die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ des Lutherischen Weltbundes und der Katholischen Kirche (Augsburg 1999) als besondere Schwierigkeit. Vgl. die unterschiedliche Interpretation in diesem Konsensdokument, zu 4.4., online. Zur Frage der Heilsgewissheit vgl. ebd., 4.6. Siehe auch die Ausführungen unter dem Stichwort „Heilsgewissheit“, in: Evangelisches Kirchenlexikon, 4716 (vgl. EKL Bd. 2/4, 471), online.

[8] Zur kritischen Auseinandersetzung mit problematischen Ansätzen dieser theologischen Richtungen vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion „Libertatis nuntius“ (= LN) über einige Aspekte der „Theologie der Befreiung“, 6. August 1984; Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion „Libertatis conscientia“ (= LC) über die christliche Freiheit und Befreiung, 22. März 1986.

[9] Dorothee Sölle spricht mit Berufung auf Gustavo Gutierrez von einer „neuen Hermeneutik“, wonach das Primäre des Christentums das Befreiungshandeln sei und die Orthodoxie erst darauf folge bzw. ihr Wahrheitskriterium aus dieser Praxis ableite: vgl. Eine Theologie der Befreiung für Europa, in: Thorsten Knauth / Joachim Schroeder (Hg.), Über Befreiung: Befreiungspädagogik, Befreiungsphilosophie und Befreiungstheologie im Dialog, Münster u.a. 1998, 95–101, hier 96. Ähnlich wendet sich Leonardo Boff gegen ein primär lehrhaftes Verständnis des christlichen Glaubens: „Nicht formulierte Wahrheiten retten, sondern Gott selbst, der sich uns als Heil gibt.“ Die Lehre sei ein „abgeleitetes Moment“, das sich wandle. Es gebe auch „Lehren und Artikulationen von Glauben und Offenbarung, die zu einer falschen Darstellung Gottes und seiner Liebe führen.“ – Kirche: Charisma und Macht, Düsseldorf 19853, 89 f. Die Kritik an einer marxistisch inspirierten Einseitigkeit wurde vom kirchlichen Lehramt wie folgt formuliert: „Man sieht, dass hier die Auffassung von der Wahrheit auf dem Spiel steht. Sie wird vollständig umgekehrt: Wahrheit gibt es nur, so wird behauptet, in der und durch die parteiliche Praxis.“ (LN VIII 4) „In dieser Perspektive ersetzt man die Orthodoxie als die rechte Glaubensregel durch die Idee der Orthopraxie als Wahrheitskriterium. … Letztere ist in der Tat eine revolutionäre Praxis, die zum obersten Kriterium der theologischen Wahrheit erhoben wird.“ (LN X 3)

[10] Schon Friedrich Nietzsche hatte in kaum zu überbietender Ernsthaftigkeit versucht, Gott für tot zu erklären. Vgl. zur Analyse und Kritik aus evangelischer Sicht: Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis dieser Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 20017, 57 ff.

[11] Provokant ist die These von Herbert Braun: „der Mensch als Mensch, der Mensch in seiner Mitmenschlichkeit, impliziert Gott … Gott wäre dann eine bestimmte Art der Mitmenschlichkeit.“ – Die Problematik einer Theologie des Neuen Testaments, in: Gesammelte Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt, Tübingen 19713, 341.

[12] Eine „Neue Politische Theologie“ betont die Notwendigkeit, dass sich die Kirche „auch in gesellschaftlicher Offenheit ihrer kultischen Einheit von Gottesgedächtnis und Leidensgedächtnis verpflichtet weiß“ und dass sie gerade dadurch „aus sich selbst heraus eine politische Kirche“ sei: vgl. Johann Reikerstorfer, Reich-Gottes-Vision und Gerechtigkeitsdiskurs, in: ders., Weltfähiger Glaube. Theologisch-politische Schriften, Münster 2008, 129–142, hier 142.

[13] 2. Vatikanisches Konzil, Dekret über die Priesterausbildung „Optatam totius“, Nr. 16.

[14] Vgl. Avery Cardinal Dulles, Der Bund Gottes mit Israel, in: Theologisches 38 (2008) 139–152, online http://www.stjosef.at/artikel/dulles_bund_mit_israel.htm.

[15] Vgl. Andreas Greis / Thomas Laubach, Handeln. Auslegungsperspektive theologisch-ethischer Reflexion, in: Gerfried W. Hunold / Thomas Laubach / Andreas Greis (Hg.), Theologische Ethik. Ein Werkbuch, Tübingen – Basel 2000, 73–91, hier 80.

[16] Vgl. Josef Spindelböck, Sinnfrage und Grundentscheidung. Zur finalen Struktur sittlicher Erkenntnis und Entscheidung, in: Studia Moralia 42 (2003) 209 f (Abstract) und 421–435 (Volltext).

[17] Gemäß ihrer Sendung zu evangelisieren, „lehrt die Kirche den Weg, dem der Mensch in dieser Welt folgen muss, um in das Reich Gottes zu gelangen. Ihre Lehre erstreckt sich folglich auf den gesamten moralischen Bereich und besonders auf die Gerechtigkeit, die die menschlichen Beziehungen ordnen muss. Das gehört zur Verkündigung des Evangeliums.“ – LC 63.

[18] „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ – Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift (Dezember-Heft 178) 481–494.

[19] Benedikt XVI., Ansprache in der Aula Magna der Universität Regensburg am 12. September 2006 zum Thema „Glaube, Vernunft und Universität. Erinnerungen und Reflexionen“, online.

[20] „Indem er seinen geheimnisvollen Namen JHWH – ‚Ich bin der, der ist‘ oder ‚Ich bin der Ich-bin‘ – offenbart, sagt Gott, wer er ist und mit welchem Namen man ihn anreden soll. Dieser Gottesname ist geheimnisvoll, wie Gott selbst Geheimnis ist. Er ist ein geoffenbarter Name und zugleich gewissermaßen die Zurückweisung eines Namens. Gerade dadurch bringt er jedoch das, was Gott ist, am besten zum Ausdruck: der über alles, was wir verstehen oder sagen können, unendlich Erhabene. Er ist der ‘verborgene Gott‘ (Jes 45,15); sein Name ist unaussprechlich; und er ist zugleich der Gott, der den Menschen seine Nähe schenkt.“ – KKK 206; vgl. auch KKK 237.

[21] Vgl. Hans Urs von Balthasar, Glaubhaft ist nur Liebe, Einsiedeln 20006.

[22] Treffend hat dies Johannes Paul II. in seiner Enzyklika „Fides et ratio“ vom 14. September 1998 in Nr. 68 als Anspruch der Moraltheologie für eine innere Aufnahme des Beitrags der Philosophie formuliert: „Die Moraltheologie hat vielleicht in noch höherem Maße den Beitrag der Philosophie nötig. Denn im Neuen Bund ist das menschliche Leben viel weniger durch Vorschriften geregelt als im Alten Bund. Das Leben im Heiligen Geist führt die Glaubenden zu einer Freiheit und Verantwortlichkeit, die über das Gesetz selbst hinausgehen. Immerhin stellen das Evangelium und die apostolischen Schriften sowohl allgemeine Prinzipien christlicher Lebensführung als auch gewissenhafte Lehren und Gebote auf. Um sie auf die besonderen Verhältnisse des Lebens des einzelnen und der Gesellschaft anzuwenden, muss der Christ imstande sein, sein Gewissen und seine Denkkraft bis zum Äußersten einzusetzen. Das heißt mit anderen Worten, die Moraltheologie muss sich einer richtigen philosophischen Sicht sowohl von der menschlichen Natur und Gesellschaft wie von den allgemeinen Prinzipien einer sittlichen Entscheidung bedienen.“

[23] Der Begriff der „Perichorese“ ist im Hinblick auf das Verhältnis von „Glaube“ und „Vernunft“ entsprechend zu modifizieren und kann nicht 1:1 von der Trinitätstheologie übertragen werden, wo es um die gegenseitige Durchdringung der göttlichen Personen und ihre gemeinsame Teilhabe am einen göttlichen Wesen geht.

[24] Johannes Paul lI., Fides et ratio, Nr. 17.

[25] Es besteht vonseiten nicht weniger Zeitgenossen der Eindruck, als handle es sich bei der Verwirklichung dieses Anliegens um nichts weniger als um eine „Quadratur des Kreises“. Zu sehr ist die Dichotomie, also die prinzipielle Trennung von Glaube und Vernunft schon ins allgemeine Denken eingegangen und wird sogar von überzeugten Christen in wenig reflektierter Weise vorausgesetzt und vertreten. Ob nicht auch die theologische Rechtfertigung einer pluralistischen Religionstheologie auf anderer Ebene eine Art und Weise dessen sein kann, die Kapitulation vor der Realisierung dieses Anliegens der universalen Kommunikabilität göttlich geoffenbarter Wahrheit in ihrer Praxisrelevanz zum Ausdruck zu bringen? Ein ähnlicher Indikator könnte ein minimalistisch verstandenes „Weltethos“ sein, wenn dies als Reduktionismus der Glaubensvoraussetzung unter rationalistischen Prämissen zur Durchführung gelangt. Hingegen wäre die bedingungslose Anerkennung des Rechtes auf Leben eines jeden Menschen als Prüfstein für jedes Ethos mit Universalitätsanspruch anzusehen. Von christlicher Seite aus sollte die Antwort aus dem Evangelium im Dialog mit der Vernunft die Wahrheit Gottes in der Öffentlichkeit sichtbar machen.

[26] „Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf. Denn Adam, der erste Mensch, war das Vorausbild des zukünftigen, nämlich Christi des Herrn. Christus, der neue Adam, macht eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung.“ – 2. Vatikanisches Konzil, GS 22.

[27] Johannes Paul II. verlangt in „Fides et ratio“ (Nr. 98) von der Moraltheologie ein „aufmerksames Nachdenken, das fähig ist, auf seine Wurzeln im Wort Gottes hinzuweisen. Um diesen Auftrag erfüllen zu können, muss sich die Moraltheologie einer der Wahrheit des Guten zugewandten philosophischen Ethik bedienen; einer Ethik also, die weder subjektivistisch noch utilitaristisch ist. Die erforderliche Ethik impliziert und setzt eine philosophische Anthropologie und eine Metaphysik des Guten voraus. Wenn die Moraltheologie diese einheitliche Auffassung anwendet, die notwendigerweise mit der christlichen Heiligkeit und mit der Übung der menschlichen und übernatürlichen Tugenden verbunden ist, wird sie imstande sein, in höchst angemessener und wirksamer Weise die verschiedenen Probleme anzugehen, für die sie zuständig ist: der Friede, die soziale Gerechtigkeit, die Familie, die Verteidigung des Lebens und der Umwelt.“

[28] „Wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, dass ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist; ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab, ihre Gedanken klagen sich gegenseitig an und verteidigen sich – an jenem Tag, an dem Gott, wie ich es in meinem Evangelium verkündige, das, was im Menschen verborgen ist, durch Jesus Christus richten wird.“ – Röm 2,14–16.

[29] Vgl. besonders STh I-II q.94 a.2.

[30] Vgl. Thomas von Aquin, STh I, q.1 a.8 ad 2: „cum enim gratia non tollat naturam sed perficiat“.

[31] „Et ideo principaliter lex nova est ipsa gratia Spiritus sancti, quae datur Christi fidelibus.” („Das neue Gesetz ist die durch den Glauben an Christus gewährte Gnade des Heiligen Geistes.“) – Thomas von Aquin, STh Ia-IIae q.106 a.1; vgl. Johannes Paul II., Enzyklika „Veritatis splendor“ über einige grundlegende Fragen der kirchlichen Morallehre, 6. August 1993, Nr. 24.

[32] Vgl. John Mahoney, The Making of Moral Theology. A Study of the Roman Catholic Tradition, Oxford 1989, 224 ff; Servais Pinckaers, The sources of Christian Ethics. Translated from the third edition by Sr. Mary Thomas Noble, O.P., Washington 1995, 240 ff; Louis Vereecke, Da Guglielmo d’Ockham a sant’ Alfonso de Liguori, a.a.O., 189 ff.

[33] Um die Herausstellung dieser Perspektive bemüht sich Johann Baptist Metz, Memoria Passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg 2006.

[34] Allerdings ist die Wendung dem Wortlaut nach bei Pascal nicht belegt. Vgl. W. Hover, Der Begriff des Herzens bei Blaise Pascal. Elemente der Vorgeschichte und der Rezeption im 20. Jh., Fridingen a.D. 1993.

[35] “La coeur a ses raisons que la raison ne connaît point.” – Pascal, Pensées, nr. 277.

[36] Der volle Text findet sich online .