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„Liebe und Verantwortung“ – Ehe und Familie bei Karol Wojtyła
Langfassung (27.10.2007)

Josef Spindelböck

Hinweis/Quelle: Vortrag am 27.10.2007 in Wigratzbad bei der Festakademie „Kultur der Liebe und des Lebens“

Die Förderung der christlichen Berufung in Ehe und Familie war ein zentrales Anliegen von Papst Johannes Paul II. (sein Pontifikat dauerte vom 16.10.1978 bis zum 02.04.2005). Bereits als Professor für Ethik, als Jugend- und Studentenseelsorger und als Bischof setzte sich Karol Wojtyła für jene Menschen ein, die sich auf das Ehesakrament vorbereiteten oder schon in Ehe und Familie lebten. Insbesondere war ihm die katechetische und seelsorgliche Verkündigung und Vermittlung der Lehre der Kirche zu diesem Thema ein wichtiges Anliegen.

Dabei war ihm als Ethiker klar bewusst, wie wichtig ein erfahrungsgemäßer Zugang der Menschen hier ist, um klarzumachen, dass die Lehre der Kirche nicht etwas dem Menschen in seiner natürlichen Verfasstheit Fremdes ist, vielleicht sogar ein Störfaktor, der der Entfaltung der Liebe und des Lebens entgegen steht, sondern dem tiefsten Wesen des Menschen entspricht. Die mit dem Wertbereich der ehelich-sexuellen Liebe verbundenen sittlichen Normen (theologisch: die Gebote Gottes) werden so als positive Wegweisungen für das Ziel der natürlichen und übernatürlichen Vollendung des Menschen aufgezeigt. Dass dies ohne die Gnade Gottes nicht gelingen kann, ist kein Argument dafür, die natürlichen Voraussetzungen gleichsam zu überspringen. Vielmehr gilt das Axiom: „Die Gnade baut auf der Natur auf“ (gratia supponit naturam). Dies war für den Ethiker, Priester und Bischof Karol Wojtyła stets ein Leitgedanke und ähnlich und noch mehr für den späteren Papst Johannes Paul II.

Bei dieser Festakademie darf ich an den uns allen wohlbekannten Sachverhalt erinnern, dass unser geschätzter Weihbischof Prof. Dr. Andreas Laun in seiner Tätigkeit als Moraltheologe, Priester und Bischof dasselbe Anliegen verfolgt und ganz im Sinn des verstorbenen Papstes Johannes Pauls II., aber auch des jetzigen Heiligen Vaters Benedikt XVI. mit vielen guten Mitarbeitern umzusetzen versucht. Dafür sei ihm anlässlich der Feier seines 65. Geburtstags von Herzen gedankt!

„Liebe und Verantwortung“ – ein zentrales Werk über die eheliche Liebe

Die Formulierung des Themas dieses Vortrags entspricht dem wichtigen Werk Karol Wojtyłas. Es trägt den Titel „Liebe und Verantwortung. Eine ethische Studie“. Vor kurzem konnte im Verlag St. Josef die deutsche Neuausgabe dieses wichtigen Buches vorgelegt werden. Das Werk war in deutscher Sprache lange Zeit im Buchhandel nicht mehr erhältlich.[1] Mit dieser Neuausgabe, welche eine Neuübersetzung auf der Grundlage des polnischen Textes mit Berücksichtigung der bisherigen deutschen Fassung sowie der englischen Fassung darstellt, soll das wichtige ethische Werk Karol Wojtyłas über den Sinngehalt der ehelichen Liebe einem breiten Leserkreis erneut zugänglich gemacht werden.[2]

Der St. Pöltner Bischof DDr. Klaus Küng, zugleich als „Familienbischof“ im Rahmen der Österreichischen Bischofskonferenz in besonderer Weise für die Belange von Ehe und Familie zuständig, schreibt im Vorwort:

„In ihren Grundzügen sind die Argumente des Verfassers auch fünfzig Jahre nach dem ersten Erscheinen weiterhin gültig und können zur vertieften, erfahrungsbezogenen Reflexion über das Thema von Liebe und Verantwortung im Horizont des christlichen Glaubens anregen. Nach seiner Erwählung zum Papst hat er bezüglich Ehe und Familie eine reichhaltige Verkündigung entfaltet. Unter seinem Pontifikat sind mehrere, für die universale Kirche wichtige lehramtliche Dokumente über Ehe und Familie entstanden, unzählige Male hat Johannes Paul II. über dieses Thema gepredigt. Die Begründungen, die er verwendete, waren vor allem naturrechtlicher und personalistischer Art. Seine Reflexionen in Liebe und Verantwortung erleichtern das Verständnis seiner päpstlichen, lehramtlichen Dokumente, ja sie vermitteln einen hermeneutischen Schlüssel zur Lehre Papst Johannes Pauls II. Sie können auch eine Hilfe sein, um manche Missverständnisse zu überwinden, die sich nach der Veröffentlichung der Enzyklika Humanae vitae unter jenen, die den Inhalt dieses päpstlichen Lehrschreibens ablehnen, verbreitet und verfestigt haben.“

Wenn 2008 das 40-Jahr-Jubiläum von „Humanae vitae“ begangen wird, dann kann gerade ein Werk wie „Liebe und Verantwortung“ helfen, den Sinngehalt dieses prophetischen Lehrschreibens Pauls VI. neu herauszustellen.[3]

Entstehung der ethischen Studie „Liebe und Verantwortung“

Karol Wojtyła wurde nach der Eroberung und Besetzung Polens durch die Nationalsozialisten und während der militärischen und politischen Präsenz der sog. russischen „Befreier“ am 1. November 1946 von Kardinal Adam Stefan Sapieha zum Priester geweiht. Er erwarb am 3. Juli 1947 in Rom das Lizenziat der Theologie, im Juni 1948 das Doktorat. Er war nach seiner Rückkehr nach Polen dann sowohl seelsorglich als auch wissenschaftlich tätig. Als Studentenseelsorger betreute er viele junge Paare und Familien und lernte darum – wie er schreibt: durch „indirekte Erfahrung“[4], d.h. durch das Gespräch mit den Betroffenen, durch ihre seelsorgliche Begleitung und Beratung – die Lebenssituation jener Menschen kennen, die sich entweder auf die Ehe vorbereiteten oder schon in ehelicher Gemeinschaft verbunden waren. An der Katholischen Universität Lublin, wohin er als Ethikprofessor berufen wurde, hielt er 1957–1959 spezielle Vorlesungen zu diesem Thema, woraus dann die polnische Erstausgabe von „Liebe und Verantwortung“ entstand, welche 1960 veröffentlicht wurde.[5] Karol Wojtyła war damals bereits seit zwei Jahren Weihbischof von Krakau.

Karol Wojtyła selber informiert in der Einleitung zur polnischen Erstausgabe über die Entstehung des Buches und antwortet zugleich auf einen Einwand, den man so formulieren könnte: „Was kann uns schon ein Priester zu Ehe und Familie sagen? Er ist doch selber nicht verheiratet. Ihm fehlt die Erfahrung!“ Dazu Karol Wojtyła:

„Manchmal hört man, dass sich nur jene, die selber ein eheliches Leben führen, zum Thema der Ehe äußern könnten, und nur die, die sie erfahren hätten, könnten sich zur Liebe von Mann und Frau zu Wort melden. In dieser Sichtweise müssen alle Aussagen über derartige Angelegenheiten auf persönlicher Erfahrung gegründet sein, sodass Priester und andere Personen, die ein zölibatäres Leben führen, zu Fragen der Liebe und der Ehe nichts zu sagen haben können. Dennoch sprechen und schreiben sie oft über derartige Dinge. Das Fehlen einer persönlichen Erfahrung ist für sie kein Hindernis, denn sie besitzen einen großen Anteil an Erfahrung aus zweiter Hand, welche sich aus ihrer pastoralen Arbeit ableitet. In ihrer pastoralen Arbeit begegnen sie nämlich diesen bestimmten Problemen so oft und in einer solchen Vielfalt von Umständen und Situationen, dass dadurch ein unterscheidbarer Typus von Erfahrung geschaffen wird, welcher gewiss weniger unmittelbar ist und natürlich ‚fremd’, aber zur selben Zeit sehr viel umfassender. Eben diese reiche Fülle an Tatsachenmaterial über das Thema regt die allgemeine Reflexion darüber an und ebenso das Bemühen, all das, was bekannt ist, in eine Zusammenschau zu bringen.“[6]

Überdies ist ja auch jeder Priester und Bischof ein Mensch, ja ein Mann, und die Kirche setzt bei aller Präferenz des zölibatären Lebensstandes für den geweihten Priester doch voraus, dass er über ein ausreichendes Maß an menschlicher Reife verfügt, um Ehe und Familie wirklich wertzuschätzen. Beide Berufungen – Zölibat und Ehe – sind nur als komplementäre Verwirklichungsformen der von Gott geschenkten und auf ihn und die Menschen ausgerichteten Liebe als sinnvoll zu begreifen und anzunehmen.

Ziel und Anliegen des Werkes „Liebe und Verantwortung“

Karol Wojtyła geht es darum, auf philosophische Weise die Lebenserfahrung der Menschen darzustellen und zu analysieren, um daraus die richtigen Schlussfolgerungen für das menschliche Verhalten in Ehe und Familie abzuleiten. Die Lehre der Kirche wird dabei vorausgesetzt, so wie sie in der Heiligen Schrift und in der apostolischen Tradition enthalten ist. Zugleich geht es aber um eine tiefere Begründung dieser Lehre, um zu zeigen, dass Gottes Weisungen für den Menschen eine wirkliche Hilfe sind, ein Weg zum Glück und zum ewigen Heil.

So schreibt Karol Wojtyła:

„Das vorliegende Buch entstand vor allem aus der Notwendigkeit, die Normen der katholischen Sexualmoral auf eine feste Grundlage zu stellen: auf eine Basis, die so endgültig wie möglich ist und die sich auf die elementarsten und unumstrittensten sittlichen Wahrheiten und die grundlegendsten Werte und Güter stützt. Ein solches Gut ist die Person, und die sittliche Wahrheit, die am engsten mit der Welt der Personen verbunden ist, ist das ‚Gebot der Liebe’, denn die Liebe ist ein Gut, das der Welt der Personen zu Eigen ist. Und daher steht der grundlegendste Weg, die Sexualethik in den Blick zu nehmen, im Zusammenhang von ‚Liebe und Verantwortung’; aus diesem Grund trägt das ganze Buch diesen Titel.“[7]

Im letzten geht es im Werk „Liebe und Verantwortung“ also um nichts anderes als um das Aufzeigen dessen, wie sehr das Gebot Gottes: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ der menschlichen Berufung entspricht, gerade auch im Bereich von Ehe und Familie. Dabei ist es Karol Wojtyła klar bewusst, dass nicht alles, was man landläufig als „Liebe“ bezeichnet, diesen Namen auch wirklich verdient. Er möchte aufzeigen, dass jeder Mensch sich selbst und auch seinen Nächsten als Person achten muss. Dies schließt jede Instrumentalisierung aus: Denn diese macht den Menschen zu einem bloßen Mittel; so wird die menschliche Person entwürdigt und als bloßes Objekt, als Gegenstand angesehen.[8] In einer Liebe, welche diesen Namen wirklich verdient, geht es aber um eine personale Begegnung und Gemeinschaft. Diese bejaht den anderen als Person in ihrem Eigenwert.

Die Liebe zwischen Mann und Frau ist hingeordnet auf eine „Gemeinschaft von Personen“ (communio personarum). Dabei geht es um Wohlgefallen, Begehren, Wohlwollen, Gegenseitigkeit, Sympathie und Freundschaft sowie um eine Integration all dessen in der gegenseitigen Hingabe der Personen in einer wahrhaft „bräutlichen Liebe“. All dies wird im Werk „Liebe und Verantwortung“ einer umfassenden Analyse unterzogen. Das Hauptanliegen Karol Wojtyłas ist es also, die personalistische Dimension der ehelichen Liebe klar herauszustellen und von ihr her alles Übrige zu begründen.

Naturordnung ist mehr als bloß Biologie

Die eheliche Liebe wird von Karol Wojtyła in „Liebe und Verantwortung“ in ihrem ursprünglichen Bezug zur „Ordnung der Natur“ erhellt, welche mehr ist als die bloß biologische Ordnung.[9]

Die biologisch-naturwissenschaftliche Sichtweise abstrahiert von wesentlichen Momenten der existenziellen Naturordnung; die Person als solche kommt nicht mehr in den Blick und auch nicht mehr die innere Finalität (Zielbezogenheit) der ehelichen Liebe als gegenseitige Hingabe und Einheit der Personen. So wie die Sexualität insgesamt wird auch die Person als solche in einer isolierten Betrachtung mehr und mehr zum bloßen Objekt; die Person verliert ihren Subjektcharakter und wird zur manipulierbaren „Sache“. Die Sexualität wird depersonalisiert und nicht mehr als Ausdruck tiefster personaler Liebe gesehen, sondern auf ein Maximum an gegenseitiger Lust und Befriedigung reduziert oder nur in der biologischen Funktion der Fortpflanzung gesehen, welche nicht mehr als Beginn der Existenz eines neuen Menschen in den Blick tritt, sondern als rein empirisch-funktionaler Vorgang, der ebenso gut durch andere Techniken (z.B. die künstliche Befruchtung) ersetzt werden könnte.

So ist es das Anliegen des ethischen Personalismus der Lubliner Schule, den Menschen als solchen in seiner Würde wieder zur Geltung zu bringen. Damit leistet die philosophische Ethik (Moralphilosophie) entscheidende Vorarbeit für die theologische Ethik (Moraltheologie), ja sie wird zu deren integrierendem Bestandteil. Der Dialog zwischen Menschen verschiedener Weltanschauung gerade auf der Basis des sog. Naturrechts, d.h. eines aufgrund der natürlichen Vernunft zugänglichen Verständnisses des Menschen und seiner sittlichen Verantwortlichkeit, stellt sich in der postmodernen Gegenwart als wieder zu entdeckende dringliche Aufgabe.[10]

Reifestufen und Wesenselemente der bräutlich-ehelichen Liebe
(gemäß Kapitel II von „Liebe und Verantwortung“)

Liebe als Wohlgefallen

Die Liebe von Mann und Frau hat fürs erste und grundlegend etwas mit gegenseitiger Anziehung zu tun, mit einem Bewusstsein von der Attraktivität des anderen. Das ist biologisch so grundgelegt und soll natürlich auch affektiv und vor allem personal vertieft werden.

Die „Liebe als Wohlgefallen“ öffnet gleichsam die Tür, um von der Ebene sinnlicher Wahrnehmung zu einer ganzheitlichen Sicht der menschlichen Person vorzustoßen. Zusammenfassend stellt Karol Wojtyła hier fest:

„Das Wohlgefallen, auf welches sich diese Liebe stützt, kann seinen Ursprung nicht nur in einer Reaktion auf die sichtbare und sinnenfällige Schönheit haben, sondern soll auch und vor allem in einer vollen und tiefen Anerkennung der Schönheit der Person bestehen.“[11]

Es geht also um eine Öffnung der Wahrnehmung der Person des jeweils anderen Geschlechts, sodass nicht nur deren sinnliche Dimension in den Blick tritt, sondern die Schönheit und Attraktivität der Person als solcher, sowohl in ihrer leiblichen als auch in ihrer geistigen Dimension. Dass dies immer wieder neu gelernt und vertieft werden muss, zeigt die Erfahrung des täglichen Lebens.

Liebe als Begehren

Eine zweite Stufe der Liebe zwischen Mann und Frau ist die Liebe als Begehren. Die Liebe als Begehren erstrebt den anderen als Ziel, insofern der Mann für die Frau bzw. die Frau für den Mann als Gut wahrgenommen wird. Davon zu unterscheiden ist ein bloß sinnliches Begehren, das sich nur auf die Sexualität richtet und die Person übersieht. Damit wird der Mensch des jeweils anderen Geschlechts instrumentalisiert und in seiner Würde nicht anerkannt.

Über den Unterschied einer „Liebe des Begehrens“ zum sinnlichen Begehren als solchen schreibt Karol Wojtyła:

„Das Objekt der Liebe des Begehrens ist ein Gut für das Subjekt – die Frau ist dies für den Mann, der Mann für die Frau. Daher wird die Liebe als Verlangen nach der Person und nicht als bloß sinnliches Begehren, als concupiscentia, erlebt. Das [sinnliche] Begehren geht zwar Hand in Hand mit diesem [liebenden] Verlangen, aber wird gleichsam von ihm überschattet. Das liebende Subjekt ist sich seiner Gegenwart bewusst und weiß, dass es gleichsam zu seiner Verfügung steht. Aber indem es sich darum bemüht, diese Liebe zu vervollkommnen, wird es darauf Acht geben, dass das [sinnliche] Begehren nicht vorherrscht und nicht alles Übrige überwältigt, was die Liebe umfasst. Denn auch jene, welche sich dessen intellektuell nicht bewusst sind, vermögen zu spüren, dass das [sinnliche] Begehren die Liebe zwischen Mann und Frau entstellen und ein vorherrschendes Begehren ihnen diese Liebe rauben würde.“[12]

Nicht die Verdrängung des sinnlichen Begehrens ist zielführend, sondern dessen Integration in die personale Dimension der Liebe zwischen Mann und Frau.

Liebe als Wohlwollen

Ein weiterer wesentlicher Schritt in der Liebe zwischen Mann und Frau führt über das Begehren hinaus hin zur Liebe des Wohlwollens. Dazu heißt es in „Liebe und Verantwortung“:

Die „Liebe des Begehrens schöpft das Wesen der Liebe zwischen den Personen nicht aus. Es genügt nicht, eine Person als Gut für sich selbst zu begehren; man muss auch und vor allem nach dem Gut für jene Person verlangen. Diese kompromisslos altruistische Ausrichtung des Willens und der Gefühlsempfindungen wird in der Sprache des heiligen Thomas von Aquin amor benevolentiae (Liebe des Wohlwollens) oder kurz benevolentia genannt, was (wenn auch nicht mit absoluter Genauigkeit) unserem Begriff des Wohlwollens entspricht. Die Liebe einer Person zu einer anderen Person muss wohlwollend sein, oder sie wird nicht wahr sein. Vielmehr wird sie überhaupt nicht Liebe sein, sondern nur Egoismus.“[13]

Hier handelt es sich um jene Liebe, die nicht primär danach fragt, was es mir selber bringt, wenn ich eine bestimmte Person liebe, sondern die sich in selbstloser Weise der anderen Person zuwendet und deren Glück und Wohl erstrebt. Freilich wäre es unangemessen, einen absoluten Gegensatz zwischen der Liebe als Begehren und der Liebe als Wohlwollen aufzustellen, da die Liebe zwischen Mann und Frau beide Momente in sich enthält und enthalten darf, sofern nur die rechte Ordnung der Hingabe gewahrt ist.

Liebe in Gegenseitigkeit

Die Wechselseitigkeit der Zuwendung und Hingabe ist ein wesentliches Moment der bräutlichen und ehelichen Liebe: Liebe ist keine Einbahnstraße, sondern ist ein Geben und Empfangen. Im Hinblick auf diese Gegenseitigkeit im Erstreben eines gemeinsamen Gutes sind jedoch Unterscheidungen nötig:

„Nach der Auffassung des Aristoteles gibt es verschiedene Arten der Gegenseitigkeit, und die Beschaffenheit des Gutes, auf welchem die Gegenseitigkeit und daher die Freundschaft gründen, bestimmt ihre Qualität in jedem einzelnen Fall. Wenn es sich um ein wirkliches Gut handelt (d.h. um ein sittlich ehrenwertes Gut), dann ist die Gegenseitigkeit etwas Tiefes, Reifes und nahezu Unzerstörbares. Wenn andererseits die Gegenseitigkeit nur durch das Eigeninteresse, die Nützlichkeit (d.h. durch ein utilitaristisches Gut) oder die Lust hervorgerufen wird, dann ist sie oberflächlich und unbeständig. Auch wenn die Gegenseitigkeit immer etwas ‚zwischen’ zwei Personen ist, so hängt sie in entscheidendem Maß doch davon ab, was die beiden Personen dazu beitragen. Daher ist es wichtig, dass jede der Personen die Gegenseitigkeit bei der Liebe nicht als etwas Über-Personales betrachtet, sondern als etwas ganz und gar Personales.“[14]

Und weiter heißt es:

„Denn die Liebe kann nur als eine Einheit Bestand haben, in der ein reifes ‚Wir’ einen klaren Ausdruck findet; sie wird nicht bestehen als eine Kombination von zwei Egoismen, als deren Folge die zwei ‚Ich’ klar sichtbar sind. Die Struktur der Liebe ist jene einer interpersonalen Gemeinschaft.“[15]

Wahre Selbstlosigkeit im Schenken und Empfangen ist also angesagt; der Egoismus wird überwunden, wenn die Personen selber zu einer Gabe werden, die sie füreinander sind.

Sympathie und Freundschaft

Sympathie kann die Wege ebnen für das Zueinander und Miteinander von Mann und Frau. Doch kann die eheliche Liebe nicht allein auf der Sympathie gründen, die ein primär emotionales Gepräge hat. Sie muss die Person des anderen bejahen. Dazu Karol Wojtyła:

„Wie festgestellt wurde, besteht die Freundschaft in einem vollen Einsatz des Willens gegenüber einer anderen Person im Hinblick auf das Gut jener Person. Es besteht daher die Notwendigkeit, dass die Sympathie zur Freundschaft heranreift, und dieser Vorgang verlangt normalerweise Zeit und Überlegung. Solange sie innerhalb der Grenzen der Sympathie verbleibt, beruht die Haltung gegenüber der anderen Person und ihrem Wert auf Emotion: Hier ist es nötig, den Wert der Emotion mit der objektiven Erkenntnis vom Wert jener Person und einer diesbezüglichen Überzeugung zu ergänzen.“[16]

Auch hier gilt also nicht die Alternative „Sympathie oder Freundschaft“, sondern es geht in der Beziehung von Mann und Frau um ein Weiterreifen von gegenseitiger Sympathie hin zu echter personaler Begegnung und Hingabe in wahrer Freundschaft des Herzens.

Bräutliche Liebe als Hochform der Liebe zwischen Mann und Frau

Erst wenn die sog. „bräutliche Liebe“ als Liebe von tiefster personaler Hingabe zwischen Mann und Frau gegeben ist, sind die beiden fähig, den Bund der Ehe miteinander einzugehen. Genau diese bräutliche Hingabe bringt das gegenseitige „Ja-Wort“ im ehelichen Konsens zum Ausdruck:

„Die bräutliche Liebe unterscheidet sich von allen Aspekten oder Formen der Liebe, welche bis jetzt analysiert wurden. Ihr entscheidendes Merkmal ist die Hingabe der eigenen Person an die andere. Das Wesen der bräutlichen Liebe ist die Selbsthingabe, die Übergabe des eigenen ‚Ichs’. Das ist etwas anderes als Wohlgefallen, Begehren und sogar Wohlwollen, und es bedeutet mehr. Dies alles sind Wege, auf denen eine Person von sich aus dem anderen entgegen geht, aber keiner von ihnen kann sie in ihrem Bestreben für das Gut des anderen so weit führen, wie das die bräutliche Liebe tut. ‚Sich selbst an den anderen hinzugeben’ ist mehr als bloß ‚zu wollen, was gut ist’ für den anderen – auch wenn als Resultat dessen ein anderes ‚Ich’ so wird, als wäre es mein eigenes, wie es in der Freundschaft geschieht. Die bräutliche Liebe ist etwas davon Unterschiedenes und bedeutet mehr als all jene Formen der Liebe, die wir bis jetzt analysiert haben, sowohl was das individuelle Subjekt betrifft, d.h. die Person, die liebt, als auch soweit es die interpersonale Vereinigung angeht, welche die Liebe schafft. Wenn die bräutliche Liebe in diese interpersonale Beziehung eingeht, ergibt sich noch mehr als bloße Freundschaft: Zwei Menschen geben sich selbst einander hin.“[17]

Die bräutlich-eheliche Liebe ist somit die Vollendung und Überbietung aller einzelnen Reifestufen der Liebe. Sie hebt sie gleichsam in sich auf und veredelt sie auf eine einzigartige Weise. Wiederum zeigt sich, dass alle Dimensionen der menschlichen Person Beachtung finden und auch unvollkommenere Weisen der Begegnung zwischen Mann und Frau in die Hochform der bräutlichen Liebe integriert werden. Es würde zur Theologie der Ehe und Familie gehören, die Offenheit der ehelichen Liebe für die Liebe Gottes aufzuzeigen. Dies geschieht in der ethischen Studie „Liebe und Verantwortung“ nur soweit, als es methodisch innerhalb des Rahmens der philosophischen Ethik durchführbar ist.[18] In der „Theologie des Leibes“, wie sie Johannes Paul II. vor allem in seinen Mittwochskatechesen entwickelt und vorgelegt hat, ist er darauf näher eingegangen.[19]

Ausblick

Mit diesen Ausführungen wurde eine kurze Darstellung dessen gegeben, was in Kapitel II von „Liebe und Verantwortung“ im Abschnitt über „Die metaphysische Analyse der Liebe“ zum Ausdruck kommt.[20]

In der ethischen Studie von Karol Wojtyła „Liebe und Verantwortung“ sind diese Analysen noch viel ausführlicher entfaltet. Es kann daher nur die Einladung zur gründlichen Lektüre dieses wichtigen Werkes ausgesprochen werden. Hier zum Abschluss die Kapitelübersicht: (1) Die Person und der sexuelle Trieb; (2) Die Person und die Liebe; (3) Die Person und die Keuschheit; (4) Die Gerechtigkeit gegenüber dem Schöpfer; (5) Sexualwissenschaft und Ethik.

Wir können zum Abschluss noch einen Wunsch formulieren, um ihn in unser gemeinsames Gebet hinein zu nehmen: Möge es vielen gelingen und letztlich von Gott geschenkt werden, dass sie die menschliche Liebe und insbesondere die ehelich-familiäre Liebe im größeren Zusammenhang des göttlichen Gebotes der Liebe sehen und soweit als möglich mit Gottes Gnade verwirklichen, um menschliche Erfüllung und ewiges Heil in Gott zu finden! – „Heilige Jungfrau und Gottesmutter Maria, Mutter der schönen Liebe, bitte für uns!“

Dr. theol. habil. Josef Spindelböck, geb. 1964, ist Priester der Diözese St. Pölten und Mitglied der Gemeinschaft vom heiligen Josef in Kleinhain. Er unterrichtet als ordentlicher Professor Ethik und Moraltheologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule der Diözese St. Pölten sowie als Gastprofessor Moraltheologie am Internationalen Theologischen Institut (ITI) in Gaming. – Daten aktualisiert am 01.09.2008.

 

 


 

 

[1] Die deutsche Ausgabe war 1979 erstmals und 1981 in einer weiteren Auflage im Kösel-Verlag erschienen und wurde anschließend – trotz wiederholter Nachfrage interessierter Leser – nicht wieder aufgelegt: Karol Wojtyła, Liebe und Verantwortung. Eine ethische Studie, München 1979, 19812 (Kösel). Englische Fassung: Karol Wojtyła (Pope John Paul II), Love and Responsibility. Translated by H.T. Willetts, Reprinted San Francisco 1993, 1994 (Ignatius Press); die englische Fassung erschien erstmals London 1979.

[2] Karol Wojtyła (Johannes Paul II.), Liebe und Verantwortung. Eine ethische Studie. Auf der Grundlage des polnischen Textes neu übersetzt und herausgegeben von Josef Spindelböck, St. Pölten 2007, ISBN 978–3-901853–14–2, Bestellung: http://verlag.stjosef.at (Verlag St. Josef, 3107 Kleinhain 6, Tel. +43 2742 360088) oder über jede Buchhandlung. – Das Original trägt den Titel: Karol Wojtyła, Miłość i odpowiedzialność. Studium etyczne (Towarzystwo Naukowe Katolickiego Uniwersytetu Lubelskiego), Lublin 1960, Krakau 1962, London 1965, Lublin 1979, 1982, 1986, 2001. Die polnische Version des Textes findet sich online unter .

[3] Vgl. Paul VI., Enzyklika „Humanae vitae” über die rechte Ordnung der Weitergabe menschlichen Lebens, 25. Juli 1968; in Fortführung: Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben „Familiaris consortio“ über die Rolle der christlichen Familie in der modernen Welt vom 22. November 1981. – Im Vorfeld von „Humanae vitae“ positiv hervorzuheben ist das „Memorandum einer Gruppe von Moraltheologen aus Krakau“ zum Thema: „Die Grundlagen der Lehre der Kirche bezüglich der Prinzipien des Ehelebens“, dt. online unter . Auf Veranlassung des Metropoliten und Erzbischofs von Krakau, Karol Kardinal Wojtyła, übernahm es 1966 eine Gruppe Krakauer Moraltheologen, das Problem der theologischen Grundlagen der christlich-ethischen Normen des ehelichen Lebens zu untersuchen.

[4] Die Erfahrung des Menschen als Person durch die „Tat“ (verstanden als die spezifisch menschliche Handlung, d.h. als „actus humanus“) steht im Mittelpunkt eines wichtigen philosophischen Werkes von Karol Wojtyła (Person und Tat. Endgültige Textfassung in Zusammenarbeit mit dem Autor von Anna-Teresa Tymienicka, Freiburg-Basel-Wien 1981). Erfahrung ist nicht nur ein sinnenhafter Vorgang (im Sinn des Empirismus und Phänomenologismus), sondern ein gesamtmenschliches Erkennen (entsprechend der sog. Phänomenologie). Innere und äußere Erfahrung werden im geistigen Verstehen zur Einheit des Erkennens zusammengefasst. Die „Tat“ tritt hervor besonders durch ihren sittlichen Aspekt. So ergibt sich ein enger Zusammenhang von Anthropologie und Ethik.

[5] Vgl. zum persönlichen und ideengeschichtlichen Hintergrund des Werkes: George Weigel, Witness to Hope. A Biography of Pope John Paul II, New York 1999, 139–144.

[6] Karol Wojtyła, Liebe und Verantwortung, 20.

[7] Karol Wojtyła, Liebe und Verantwortung, 21.

[8] Die Bezugnahme auf Immanuel Kants Lehre vom Kategorischen Imperativ ist klar. Karol Wojtyła überwindet jedoch eine bloße „Pflichtethik“ durch die metaphysische Analyse der Liebe als verantwortliche gegenseitige Hingabe und Gemeinschaft der Personen. Kant formulierte so (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, B 52 und B 66 f): Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde! … Handle so, dass du die Menschheit – sowohl in deiner Person als auch in der Person eines jeden anderen – jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel gebrauchst!

[9] Vgl. dazu Karol Wojtyła, Liebe und Verantwortung, 79–84 („Der Sexualtrieb und die Existenz“).

[10] Darauf hat auch Benedikt XVI. wiederholt hingewiesen; vgl. z.B. seine Ansprache an die Teilnehmer des internationalen Kongresses über das natürliche Sittengesetz vom 12. Februar 2007.

[11] Karol Wojtyła, Liebe und Verantwortung, 120.

[12] Karol Wojtyła, Liebe und Verantwortung, 122.

[13] Karol Wojtyła, Liebe und Verantwortung, 124.

[14] Karol Wojtyła, Liebe und Verantwortung, 129.

[15] Karol Wojtyła, Liebe und Verantwortung, 131 f.

[16] Karol Wojtyła, Liebe und Verantwortung, 137.

[17] Karol Wojtyła, Liebe und Verantwortung, 142 f.

[18] Vgl. Karol Wojtyła, Liebe und Verantwortung, Kapitel IV: Die Gerechtigkeit gegenüber dem Schöpfer, 307 ff.

[19] Vgl. Johannes Paul II. (hg. und eingel. v. Norbert und Renate Martin), Die menschliche Liebe im göttlichen Heilsplan. Katechesen 1979–1981, Vallendar-Schönstadt 1985; Die Erlösung des Leibes und die Sakramentalität der Ehe. Katechesen 1981–1984, Vallendar-Schönstadt 1985; Die Familie – Zukunft der Menschheit. Aussagen zu Ehe und Familie 1978–1984, Vallendar-Schönstadt 1985. – Um eine vertiefte Zusammenschau bemüht sich Dominik Schwaderlapp, Erfüllung durch Hingabe. Die Ehe in ihrer personalistischen, sakramentalen und ethischen Dimension nach Lehre und Verkündigung Karol Wojtyłas / Johannes Pauls II. (Moraltheologische Studien, Neue Folge, Bd 2), St. Ottilien 2002. Einen guten Überblick bietet: Christopher West, Theologie des Leibes für Anfänger. Einführung in die sexuelle Revolution nach Papst Johannes Paul II., Kisslegg 2006. Vgl. auch Andreas Laun, Liebe und Partnerschaft aus katholischer Sicht, Eichstätt 82003; Angelo Scola, Das hochzeitliche Geheimnis, Einsiedeln 2006; José Miguel Granados Temes, La ética esponsal de Juan Pablo II. Estudio de los fundamentos de la moral de la sexualidad en las catequesis sobre la teología del cuerpo (Studia Theologica Matritensia, 8), Madrid 2006. Schließlich sei verwiesen auf: Michael Waldstein, Man and Woman He Created Them. A Theology of the Body, A New Translation Based on the John Paul II Archives, Boston 2006 (zu beachten ist der Einführungskommentar [“Introduction”] von Michael Waldstein, ebd., 1–128).

[20] Vgl. Karol Wojtyła, Liebe und Verantwortung, 109–149.