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Liebe als Geschenk und Gebot
Die Enzyklika „Deus caritas est“ aus moraltheologischer Sicht (März 2006)

Josef Spindelböck

Hinweis/Quelle: Donnerstag, 23. März 2006, 16.30 Uhr, Radio Maria Österreich (Sendereihe „Katechismus)

Bedeutung und Stellenwert dieser Enzyklika

Papst Benedikt XVI. hat am 25. Januar 2006, dem Fest der Bekehrung des hl. Apostels Paulus, seine schon länger erwartete erste Enzyklika veröffentlicht. Sie trägt als Datum der Unterzeichnung den 25. Dezember 2005 und hat den Titel „Deus caritas est“. Gemäß den Anfangsworten („Gott ist die Liebe“, 1 Joh 4,8.16) handelt das Schreiben, das der Papst „an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die gottgeweihten Personen und an alle Christgläubigen“ richtet, „über die christliche Liebe“.[1]

Viele haben es als Überraschung empfunden, dass der nunmehrige Papst Benedikt XVI., vormals Joseph Kardinal Ratzinger, ein Schreiben dieser Art veröffentlicht. Sie hätten sich, entsprechend dem medial aufgebauten Klischee des „finstern Glaubenswächters“, als den man Ratzinger während seiner Zeit als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre (1981–2005) nicht selten dargestellt hat, eher ein Schreiben erwartet, in dem der neue Papst eine Generalabrechnung mit dem Zeitgeist vornimmt und solche Lehren der Kirche neu einschärft und zu glauben vorlegt, die vielfach in Vergessenheit geraten sind oder der herrschenden „political correctness“ auch im innerkirchlichen Bereich zu widersprechen scheinen. Manche haben vielleicht gar an feierliche Anathematismen, d.h. Ablehnungen von Irrlehren gedacht, wie sie früher von Päpsten und Konzilien nicht selten vorgelegt wurden.

Nichts von all dem ist geschehen. Oder doch? Indem Papst Benedikt XVI. das Zentralthema der göttlichen Liebe aufgegriffen hat, mit der die Menschen beschenkt werden und auf die sie dadurch eine Antwort geben sollen, dass sie die Gottes- und Nächstenliebe verwirklichen, hat der Papst einerseits die Kritiker verblüfft[2], andererseits hat er mit diesem Schreiben genau dort angesetzt, wo gleichsam die „Kernkompetenz“ der Kirche liegt und von wo aus auch alle übrigen Glaubensthemen und Inhalte – die der „neue Papst“ durchaus verkündet, bekräftigt und einfordert[3] – ihre rechte Zuordnung und ihr Verständnis finden. Es scheint, dass der Papst Benedikt XVI. als sichtbarer oberster Hirte der Christen Theologe, Katechet und Missionar zugleich ist und – dem Erbe seines Vorgängers Johannes Pauls II. entsprechend – genau dort ansetzt, wo die tiefsten Fragen des Menschen zu finden sind, nämlich bei der Frage nach dem Geheimnis des dreifaltigen Gottes, der „die Liebe“ ist – „Deus caritas est“.

Obwohl die Enzyklika so ganz und gar nicht moralisierend wirkt, ist sie doch – neben ihrer primär dogmatischen Bedeutung – ein moraltheologisches Schreiben.[4] Der „Glanz der Wahrheit“ auf dem Antlitz Christi[5] strahlt in diesem Schreiben als jene Liebe wider, die aus dem Herzen des Erlösers entspringt und den Menschen angeboten wird als Gnadenquell des ewigen Lebens. Somit setzt Benedikt XVI. das Anliegen Johannes Pauls II. fort, zur Erneuerung der Kirche und ihrer theologischen Wissenschaft, ja insbesondere auch der Moraltheologie beizutragen.

Benedikt XVI. hat mit dieser ersten Enzyklika ganz grundlegend das „Zentralthema“ des christlichen Glaubens und Lebens angesprochen: Es geht zuerst und vor allem um den dreifaltigen Gott, der ein Geheimnis der Liebe ist, und dann zugleich um den Menschen, der an dieser Liebe Anteil erhält und dadurch zum Heil geführt wird. Gott, der die Liebe ist, hat den Menschen aus Liebe erschaffen und zur Liebe berufen. In der Anteilnahme am göttlichen Leben findet der Mensch die letzte Erfüllung seines Lebens, hier auf Erden durch das Geschenk der heiligmachenden Gnade, im Himmel in der ewigen und unverhüllten Schau Gottes von Angesicht zu Angesicht.

Erster Teil: Die Einheit der Liebe in Schöpfung und Heilsgeschichte

Der eine und dreifaltige Gott, jenes ewige und unendlich vollkommene Wesen, das sich selbst allein genügt und in sich selbst die Fülle des Seins, des Guten und der Liebe verwirklicht, hat es nicht nötig, irgendetwas außer ihm zu erschaffen. Weder die Welt als ganze und die in ihr vorhandenen Lebewesen noch der Mensch oder die Engel sind „notwendig“ im Sinn einer absoluten, metaphysischen Notwendigkeit. Hätte Gott dies alles nicht erschaffen, wäre er niemandem Rechenschaft schuldig. Er würde deshalb in keiner Weise etwas an seiner ewigen Vollkommenheit, an seiner Güte, Heiligkeit und Gerechtigkeit eingebüßt haben. Nichts hätte dem einen und dreipersönlichen Gott ohne die faktisch erfolgte Schöpfung an höchster Vollkommenheit gefehlt – für die ganze Ewigkeit.

Dass Gott dennoch die sichtbare und die unsichtbare Welt erschaffen hat und alles, was in ihr lebt und existiert, ist daher ein Wunder im grundlegenden Sinn. Der Mensch kann vor diesem unaussprechlichen Geheimnis nur anbetend in tiefer Dankbarkeit und Demut verweilen. Nicht wir sind es, die unser Dasein begründet haben, sondern Gott hat es uns geschenkt. Ja, er erhält alles fortwährend im Dasein. Gott tut dies, weil er seine Güte und Liebe mitteilen will. Er will gerade dadurch seine Herrlichkeit offenbaren, dass er vernünftige und freie Wesen erschafft (die Menschen und die Engel), die von ihm eingeladen werden, an der ewigen Gemeinschaft seiner Liebe teilzuhaben.

„Gott ist die Liebe“, und die erste Offenbarung dieser Liebe geschieht im Werk der Schöpfung, das nicht etwas ein für allemal Abgeschlossenes darstellt, sondern fortdauert, indem Gott alles Geschaffene im Dasein erhält und zur Vollendung führt.

Vollends offenbart sich die Liebe Gottes schließlich darin, dass Gott in der Geschichte des Menschen in freier und ungeschuldeter Weise initiativ wird und die Menschheit, angefangen mit den Patriarchen der Vorzeit, den Gerechten des Alten Bundes und dem Volk Israel, in seinen Bund einlädt, der sich in der Kirche als universaler Heilsgemeinschaft vollendet. Hier zeigt sich die Liebe Gottes in ihrem tiefsten Wesen: Gott selbst wird Mensch in Jesus Christus, der damit „die fleischgewordene Liebe Gottes“ (Nr. 12–15) darstellt.

Kein anderes Wort ist ja einerseits so in aller Munde wie das Wort „Liebe“; kein anderes Wort wird jedoch auch so missbraucht, sodass man sich oft fragen muss, ob denn wirklich alles „Liebe“ ist, was man so nennt. Papst Benedikt XVI. analysiert in der Enzyklika die verschiedenen Formen der Liebe, die es gibt, und setzt sie zueinander in Beziehung. So gibt es sowohl unter den Menschen wie auch im Verhältnis des Menschen zu Gott eine „begehrende Liebe“ und eine „schenkende Liebe“. Man kann diesen Unterschied mit den Begriffen von Eros und Agape bezeichnen, wobei der Eros eher das sinnliche Moment der Liebe und Agape die geistige Hingabe an die Person des geliebten Menschen oder an Gott bezeichnet: Es begegnen uns „die beiden Grundwörter Eros als Darstellung der ‚weltlichen’ Liebe und Agape als Ausdruck für die im Glauben gründende und von ihm geformte Liebe. Beide werden häufig auch als ‚aufsteigende’ und ‚absteigende’ Liebe einander entgegengestellt; verwandt damit sind andere Einteilungen wie etwa die Unterscheidung in begehrende und schenkende Liebe (amor concupiscentiae — amor benevolentiae), der dann manchmal auch noch die auf den Nutzen bedachte Liebe hinzugefügt wird.“ (Nr. 7)

Liebe ist eine Urkraft des Menschseins, und Gott selber heiligt die menschliche Liebe dadurch, dass er uns in seiner Menschwerdung im Herzen Jesu in der Einheit von göttlicher und menschlicher Liebe angenommen hat: „Wer Liebe schenken will, muss selbst mit ihr beschenkt werden. Gewiss, der Mensch kann — wie der Herr uns sagt — zur Quelle werden, von der Ströme lebendigen Wassers kommen (vgl. Joh 7,37–38). Aber damit er eine solche Quelle wird, muss er selbst immer wieder aus der ersten, der ursprünglichen Quelle trinken — bei Jesus Christus, aus dessen geöffnetem Herzen die Liebe Gottes selber entströmt (vgl. Joh 19,34).“ (Nr. 7)

Untrennbar gehören die Gottes- und Nächstenliebe zusammen, schreibt der Papst. Gottes- und Nächstenliebe „gehören so zusammen, dass die Behauptung der Gottesliebe zur Lüge wird, wenn der Mensch sich dem Nächsten verschließt oder gar ihn hasst. Man muss diesen johanneischen Vers [nämlich 1 Joh 4,20] vielmehr dahin auslegen, dass die Nächstenliebe ein Weg ist, auch Gott zu begegnen, und dass die Abwendung vom Nächsten auch für Gott blind macht.“ (Nr. 16)

Auf dem Hintergrund dieser Aussagen wird verständlich, in welchem Sinn es möglich ist, von der Liebe als einem Gebot Gottes zu sprechen. Die Liebe ist jedenfalls zuerst ein Geschenk, da Gott den Anfang macht und dem Menschen unverdienterweise, d.h. gnadenhaft seine Liebe schenkt. Der Mensch ist nun in seiner Freiheit aufgefordert, dieses Geschenk anzunehmen und weiterzugeben. Liebe als Geschenk wird dadurch auch zum Gebot. Dieses Gebot kann der Mensch nur deshalb erfüllen, weil er bleibend auf die göttliche Vorgabe und Ermächtigung zur Liebe verwiesen ist. Nicht aus eigenem Vermögen und aus eigener Kraft sind wir Menschen fähig zu übernatürlicher und damit heilsstiftender Liebe, sondern kraft der Verbundenheit mit dem einen und einzigen Mittler zwischen Gott und den Menschen, Jesus Christus.

Zweiter Teil: Caritas – Das Liebestun der Kirche als einer „Gemeinschaft der Liebe“

Liebe darf nicht bloße Theorie bleiben. Wer Gott zu dienen meint, aber kein Herz hat für seine Mitmenschen, der hat auch keine wahre Gottesliebe. So ruft der Papst in seiner Enzyklika die ganze Kirche, ja alle Christen und Menschen guten Willens auf, Gott und den Nächsten zu lieben. Zu allen Zeiten war es in der Kirche eine wichtige Aufgabe, die Liebestätigkeit zu üben. Sowohl die Hilfsbereitschaft der einzelnen gegenüber den Notleidenden wie auch die organisierte Form der Nächstenliebe („Caritas“) ist hier von Bedeutung.

Der Papst schreibt (in Nr. 22): „Im Laufe der Zeit und mit der fortschreitenden Ausbreitung der Kirche wurde ihr Liebesdienst, die Caritas, als ein ihr wesentlicher Sektor zusammen mit der Verwaltung der Sakramente und der Verkündigung des Wortes festgelegt: Liebe zu üben für die Witwen und Waisen, für die Gefangenen, für die Kranken und Notleidenden welcher Art auch immer, gehört genauso zu ihrem Wesen wie der Dienst der Sakramente und die Verkündigung des Evangeliums. Die Kirche kann den Liebesdienst so wenig ausfallen lassen wie Sakrament und Wort.“

Wie aber verhält es sich mit dem Zusammenhang von Gerechtigkeit und Liebe? Kann das eine das andere ersetzen oder macht die Liebe die Gerechtigkeit überflüssig? Keineswegs! Gerade die Politik muss sich um die Herstellung und Garantierung einer Ordnung der Gerechtigkeit in Staat und Gesellschaft bemühen und kann sich nicht auf die private Initiative einzelner oder von Gruppen oder auf die kirchliche Liebestätigkeit verlassen. „Die gerechte Ordnung der Gesellschaft und des Staates ist zentraler Auftrag der Politik.“ (Nr. 28) Dennoch gilt: „Es gibt keine gerechte Staatsordnung, die den Dienst der Liebe überflüssig machen könnte. Wer die Liebe abschaffen will, ist dabei, den Menschen als Menschen abzuschaffen. Immer wird es Leid geben, das Tröstung und Hilfe braucht. Immer wird es Einsamkeit geben. Immer wird es auch die Situationen materieller Not geben, in denen Hilfe im Sinn gelebter Nächstenliebe nötig ist. Der totale Versorgungsstaat, der alles an sich zieht, wird letztlich zu einer bürokratischen Instanz, die das Wesentliche nicht geben kann, das der leidende Mensch — jeder Mensch — braucht: die liebevolle persönliche Zuwendung.“ (ebd.)

Wie sieht nun das „spezifische Profil der kirchlichen Liebestätigkeit“ aus? Es ist „zunächst einfach die Antwort auf das, was in einer konkreten Situation unmittelbar Not tut: Die Hungrigen müssen gespeist, die Nackten gekleidet, die Kranken auf Heilung hin behandelt, die Gefangenen besucht werden usw. Die karitativen Organisationen der Kirche — angefangen bei denen der (diözesanen, nationalen und internationalen) ‚Caritas’ — müssen das ihnen Mögliche tun, damit die Mittel dafür und vor allem die Menschen bereitstehen, die solche Aufgaben übernehmen.“ (Nr. 31) Dann aber ist auch zu beachten: „Wenn die karitative Aktivität von der Kirche als gemeinschaftliche Initiative ausgeübt wird, sind über die Spontaneität des einzelnen hinaus selbstverständlich auch Planung, Vorsorge und Zusammenarbeit mit anderen ähnlichen Einrichtungen notwendig.“ (ebd.) Die Bischöfe haben hier eine besondere Verantwortung in der Nachfolge der Apostel, dass sie die kirchliche Liebestätigkeit leiten und organisieren. Sie brauchen jedoch viele Helfer, Priester und Diakone, Ordensleute und Laien.

Gegen das Ende der Enzyklika stellt der Heilige Vater den Zusammenhang der drei göttlichen Tugenden heraus: „Glaube, Hoffnung und Liebe gehören zusammen. Die Hoffnung artikuliert sich praktisch in der Tugend der Geduld, die im Guten auch in der scheinbaren Erfolglosigkeit nicht nachlässt, und in der Tugend der Demut, die Gottes Geheimnis annimmt und ihm auch im Dunklen traut. Der Glaube zeigt uns den Gott, der seinen Sohn für uns hingegeben hat, und gibt uns so die überwältigende Gewissheit, dass es wahr ist: Gott ist Liebe! Auf diese Weise verwandelt er unsere Ungeduld und unsere Zweifel in Hoffnungsgewissheit, dass Gott die Welt in Händen hält und dass er trotz allen Dunkels siegt, wie es in ihren erschütternden Bildern zuletzt strahlend die Geheime Offenbarung zeigt. Der Glaube, das Innewerden der Liebe Gottes, die sich im durchbohrten Herzen Jesu am Kreuz offenbart hat, erzeugt seinerseits die Liebe. Sie ist das Licht — letztlich das einzige –, das eine dunkle Welt immer wieder erhellt und uns den Mut zum Leben und zum Handeln gibt. Die Liebe ist möglich, und wir können sie tun, weil wir nach Gottes Bild geschaffen sind. Die Liebe zu verwirklichen und damit das Licht Gottes in die Welt einzulassen — dazu möchte ich mit diesem Rundschreiben einladen.“ (Nr. 39)

Abschluss

Zuletzt empfiehlt der Heilige Vater die ganze Kirche der Gottesmutter Maria, die er als hervorragendes Beispiel christlicher Liebestätigkeit den Gläubigen vor Augen stellt (Nr. 42):

Heilige Maria, Mutter Gottes,
du hast der Welt das wahre Licht geschenkt,
Jesus, deinen Sohn — Gottes Sohn.
Du hast dich ganz dem Ruf Gottes überantwortet
und bist so zum Quell der Güte geworden,
die aus ihm strömt.
Zeige uns Jesus. Führe uns zu ihm.
Lehre uns ihn kennen und ihn lieben,
damit auch wir selbst wahrhaft Liebende
und Quelle lebendigen Wassers werden können inmitten einer dürstenden Welt.

 


[1] Benedikt XVI., Enzyklika „Deus caritas est“ an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die gottgeweihten Personen und an alle Christgläubigen über die christliche Liebe vom 25. Dezember 2005 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 171).

[2] Verschiedene inner- und außerkirchliche Stellungnahmen zur Enzyklika „Deus caritas est“ finden sich unter http://www.kath.de/deuscaritas.php.

[3] Vgl. z.B. Josef Spindelböck, Papst Benedikt XVI. stärkt die Kirche Österreichs im Glauben, in: Theologisches 35 (2005) 683–686.

[4] Zur Analyse der Enzyklika vgl. u.a. Barbara Hallensleben, „Kirche ist nicht leibfeindlich“. Interview mit „Radio Vatikan“; Weihbischof Andreas Laun, Betrachtungen zur neuen Enyzklika, in: Kirche heute, März 2006, 12–15; Michael Stickelbroeck, Papst Benedikt XVI.: Vom Wesen der Liebe, in: Theologisches 36 (2006) 93–96; aus sozialethischer Sicht: Wolfgang Palaver, Deus caritas est – Gott ist die Liebe. Die Antrittsenzyklika von Papst Benedikt XVI. (10.02.2006).

[5] Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika „Veritatis Splendor“, 6. August 1993 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 111), lat. in: AAS 85 (1993) 1133–1228.